101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
spricht Faharâyis, der Philosoph:
~ Mein Gebieter!, fuhr sie in ihrer Erzählung fort:
~ Der Königssohn hatte es sich unterdessen auf dem Pferd bequem gemacht. Er flog immer weiter durch die Lüfte, bis er seine Vaterstadt erreichte. Auf dem Dach des Palasts landete er, stieg vom Pferd, hob das Mädchen herunter, nahm sie an der Hand und führte sie zu seinem Vater. Als der ihn sah, sprang er auf und fiel ihm um den Hals. Dann kamen seine Mutter und seine Schwestern herbei und umarmten ihn. Desgleichen hießen alle, die sich im Palast befanden, ihn und das Mädchen willkommen. Sein Vater ließ ihn neben sich Platz nehmen und bat ihn, zu erzählen, was er während seiner Abwesenheit erlebt hatte.
«Und dies, mein liebes Väterchen», schloss der Königssohn seinen Bericht, «ist das Mädchen, um dessentwillen ich all das erlitten und durchlebt habe.»
«Lob sei Gott, der dich und sie gerettet hat», gab der Vater zur Antwort.
Dann schickte der Königssohn einen Boten zum Vater des Mädchens, der ihm all ihre Nachrichten überbringen und ihm schildern sollte, was sie mit ihm erlebt hatte. Auch bat er ihn, sie heiraten zu dürfen.
Als der Bote mit dem Brief bei ihm eintraf, freute sich der König sehr. Er wischte allen Kummer fort, behandelte den Boten zuvorkommend, erwies ihm viel Gutes und veranstaltete ein aufwendiges Fest. Dann schrieb er einen Antwortbrief, in dem er dem König mitteilte, dass er für die Eheschließung seiner Tochter mit dem Königssohn sein Einverständnis erteile. Mit einem großzügigen Geschenk schickte er den Boten wieder heim.
Es wird erzählt:
Als der Bote das Geschenk überbrachte, waren der Königssohn und das Mädchen außer sich vor Freude. Der König veranstaltete ein aufwendiges Fest für seinen Sohn. Einen vollen Monat lang verköstigte er Sesshafte und Beduinen. Das Mädchen aber wurde mit dem prächtigsten Schmuck herausgeputzt, und als der junge Mann sich mit ihr vereinigte, fand er, dass sie noch Jungfrau war und gänzlich unberührt.
Und so lebte er mit ihr vergnügt, aß und trank sich satt an den köstlichsten Speisen und Getränken, bis das sichere Ende sie ereilte. Lob sei Gott, dem Herrn der Weltbewohner!
Die Geschichte vom König und der Gazelle
~ Die Leute behaupten, o König, fuhr sie fort zu erzählen, ~ dass es einmal einen König gab und dass dieser König eines Tages mit seinen Wesiren und seinem Hofstaat zur Jagd und Hatz ausgeritten war. Während er so durch die Wüste ritt, sprang plötzlich eine anmutige Gazelle vor der Jagdgesellschaft auf. Sie trug ein Perlenhalsband um den Nacken, Goldkettchen an den Füßen und um die Schenkel silberne Fußreifen. Auf ihrem Rücken lag ein Kleid aus grünem Brokat. Als der König die Schönheit und Anmut der Gazelle sah, sprach er zu seinen Wesiren: «Diese Gazelle gehört gewiss einem König. Gebt acht, dass sie uns nicht entkommt!»
Sie ließen die Hunde und Falken los und begannen sie zu hetzen. Doch immer wenn die Hunde sie gerade erreicht hatten, flüchtete die Gazelle abermals und ließ sich nicht fangen.
Das gefiel dem König. «Hefte dich an ihre Spur», befahl er einem der Wesire, «vielleicht kriegen wir sie ja.»
Und die beiden nahmen die Verfolgung auf, während die Gazelle immer flinker vor ihnen wegsprang. Bis der Tag sich neigte, blieben sie ihr auf der Spur.
Unterdessen hatte die Gazelle sie auf eine große Wiese geführt, reich an Früchten und Bäumen, auf der Kamele, Rinder, Schafe und Ziegen grasten. In der Mitte der Wiese erhob sich ein gewaltiges Schloss, glanzvoller und größer, als es je ein Mensch gesehen hatte.
DerKönigundderWesirnähertensichdemSchlossundbetrachtetenstaunendseinePrachtundHerrlichkeit.Währendsiegeradesodastanden,kamplötzlichausdemSchlosstoreinjungerMannaufeinemedlenRossherausgeritten.SowiedieGazelledenjungenMannbemerkte,verhieltsieundsprangdannumihnherum,währenderimSattelsaß.SchließlichbedeckteersiemitdemÄrmelseinesGewandesundführtesieinsSchloss.DarüberwundertesichderKönig.
«Ich vermute nichts anderes, o König», wandte sich der Wesir ihm zu, «als dass die Gazelle diesem jungen Mann gehört. Wenn du es wünschst, kann ich ihn fragen, ob er sie dir verkaufen oder schenken würde.»
«T u das», entgegnete der König.
Und so ritten der Wesir und der König auf das Schlosstor zu und begehrten Einlass.
Die Torwachen begaben sich zu ihrem Gebieter, dem Schlossherrn, und meldeten ihm: «Am Tor sind zwei Männer, vermutlich Königssöhne. Sie bitten
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