1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
Tiere verkrochen hatten. Es gab hier auch Schlangen. Oder Eidechsen.
Aber kratzten die auch?
Schlangen bestimmt nicht, dachte er, und einen Augenblick später wurde sein gesamter Denkapparat lahmgelegt, denn er sah, was da aus dem Maul hervorkroch.
Mehrere helle, mit Blut befleckte Finger waren erschienen, die sich an der Unterlippe festklammerten, als wollten sie dafür sorgen, daß ein sich im Maul befindlicher Körper in die Höhe gezogen wurde. Aber den konnte es nicht geben, wenn alles stimmte, was ihm gesagt worden war. Die Hände waren doch abgehackt worden, und der Mann kannte die Finger verdammt gut, denn sie gehörten seiner Frau.
Dieses Wissen brachte ihn beinahe um den Verstand. Er konnte nicht mehr gerade stehen, er schwankte, aber er ging nicht zurück. Sein eigener Mund hatte sich automatisch geöffnet. Speichel floß daraus hervor und lief in glänzenden Streifen an den Kinnseiten entlang. Die Hände waren nicht aufzuhalten.
Und das Maul zitterte plötzlich. Ja, es bewegte sich. Das war keine Täuschung. Es weitete sich, als bestünden die Lippen aus Gummi und nicht aus hartem Fels.
Auch die Hände hatten ihre Haltung verändert. Auf einmal schwebten sie zwischen den beiden Lippen, ohne die eine oder andere dabei zu berühren.
Romano Malfi sah aus wie ein Mann, der staunte. Das stimmte nicht. Diesen Ausdruck hatte das nackte Entsetzen bei ihm hinterlassen, das den Mann in seinen Klauen hielt.
Er kam mit diesem Vorgang nicht zurecht. Alles ging ihm einen Schritt zu weit. Das Rätsel war einfach nicht zu erklären. Hände, die einmal abgeschlagen worden waren, konnten nicht mehr leben.
Und wie sie lebten!
Blitzartig schossen sie vor und waren so schnell, daß Malfi nicht ausweichen konnte.
Die abgehackten Hände seiner Frau erwischten seinen Hals und drückten wie Stahlbänder zu.
Sie waren zu schrecklichen Würgeklauen geworden. In ihnen steckte eine unheimliche Kraft, die nicht erklärt werden konnte. Schon beim ersten Zupacken hatten sie dem Mann die Luft geraubt, der es trotzdem nicht wahrhaben wollte, den Mund so weit wie möglich aufriß und dabei versuchte, nach Luft zu schnappen.
Er röchelte. Er bewegte seine Arme ebenso unkontrolliert wie die Beine, so daß es aussah, als würde er einen makabren Tanz aufführen.
Die Hände würgten weiter. Sie waren glatt abgetrennt worden. Sie bluteten nicht mehr, denn die Wunden hatten bereits rotbraune Flecken bekommen.
Malfi lief hin und her. Die Luft war ihm radikal abgeschnürt worden. Obwohl er die Augen offenhielt, gelang es ihm nicht, alles so zu sehen, wie er es gewohnt war.
Die kleine Welt in seinem Sichtkreis verschwamm vor seinen Augen. Der Felsen war für ihn zu einem Schatten geworden, der sich in seinem eigenen Rhythmus bewegte. Er tanzte mal nach links, dann wieder nach rechts. Ein Schleier, an dem jemand laufend zerrte.
Die Kraft ließ bei ihm nach. Zuerst in den Beinen. Er stolperte wegen einer Unebenheit des Bodens, bekam das Übergewicht und fiel hin.
Malfi spürte den Schlag in den Knien. Sein Oberkörper pendelte in dieser Haltung, und erst jetzt kam er dazu, seine eigenen Hände hochzureißen und die anderen Finger damit zu umklammern, weil er sie von seinem Hals weghaben wollte.
Es war lächerlich. Ein letzter Versuch. Er hatte die kalten Totenfinger seiner Frau berührt. Nur hatte er über diese Erkenntnis nicht mehr nachdenken können, denn die Atemnot war zum größten Problem für ihn geworden.
Romano Malfi wurde erwürgt.
Man raubte ihm die Luft.
Die Daumen drückten tief in seinen Hals hinein.
Ein letztes Zucken durchlief seinen Körper. Dann erschlaffte er in einer knienden Haltung, die ein Toter auch nicht mehr länger einnehmen konnte.
Sehr langsam und sehr steif kippte der tote Romano Malfi zu Boden, wo er auf der Seite liegenblieb.
Auch in den folgenden Sekunden umklammerten die Würgehände den Hals des Mannes, als wollten sie auf Nummer Sicher gehen. Schließlich zuckten sie selbst, und die Finger streckten sich über dem starren Körper des Toten. Sie warteten ab. Sie schienen zu beobachten, als befänden sich Augen in den Handflächen.
Dann sanken sie nach unten.
Es war mehr ein sanftes Schweben. Der spätere Griff der beiden Hände allerdings war nicht so sanft, und die Totenklauen bewiesen, welche Kraft in ihnen steckte.
Sie schoben sich unter den leblosen Körper und hoben ihn kurz an.
Dann trugen sie ihn weg.
Nicht zum Maul hin, nein, es war genau die andere Richtung, in die die beiden
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