1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
Klauen den Toten brachten. Zum Rand der Schlucht hin und dann darüber hinweg.
Noch ein Stück weiter schwebten die Totenhände mit ihrer Last, bis sie einen bestimmten Punkt erreicht hatten.
Dort ließen sie den Körper fallen.
Er sauste in die Tiefe, prallte gegen das Geäst der Bäume, durchbrach es und knallte irgendwo auf halber Hanghöhe zu Boden.
Die Hände aber blieben nicht mehr dort, wo sie die Leiche losgelassen hatten. Sie drehten sich und schwebten den Weg zurück. Ihr Ziel war das offene Maul im Felsengesicht. Wie zwei Federn schwebend glitten sie durch den Lippenspalt und waren wenig später in der tiefen Düsternis des Felsens verschwunden.
Nicht die kleinste Spur wies auf diesen schrecklichen und unbegreiflichen Mord hin…
***
Kim Grovers Wangen waren tränennaß. Sie hatte es nicht mal bemerkt. Sie war einfach zu sehr schockiert und entsetzt gewesen, denn sie hatte diese Tat mit eigenen Augen gesehen. Da hatte ihr niemand etwas vorgemacht. Das war die brutale Wirklichkeit gewesen.
Auch ihr Freund Larry Lutz war entsetzt. Er konnte sich ebensowenig rühren wie Kim. Nur hatte er nicht geweint, sondern sich die Fingernägel in seine Handballen gestoßen. Wären sie etwas länger gewesen, hätten sie blutende Wunden hinterlassen, so aber waren nur blaue, halbrunde Abdrücke zurückgeblieben.
Sie hatten alles gesehen - alles!
Aber sie konnten es nicht glauben. Sie wollten es einfach nicht akzeptieren. Das war zuviel verlangt, das konnte nicht den Tatsachen entsprechen. Besonders für Kim war es nicht zu fassen, denn sie hatte diesen mystischen und legendenumrankten Orten und Plätzen immer skeptisch gegenübergestanden.
Nun aber hatte sie mit eigenen Augen verfolgt, was auf dieser Welt alles möglich war.
Als Larry sie anstieß, zuckte sie zusammen und erwacht wie aus einem tiefen Alptraum. Sie drehte ihm ihr nasses Gesicht zu und schüttelte dabei den Kopf.
»Larry, bitte sag, daß ich geträumt habe. Kneif mich und sag, daß es nicht wahr ist.«
»Das kann ich nicht, Kim.«
»Weil es stimmt, wie?«
»Ja.«
»Und die Hände sind aus dem Maul gekommen?«
»Leider.«
»Totenhände?«
»Abgeschnittene«, flüsterte er und schüttelte sich, weil ich ihn die Erinnerung peinigte.
Kim Grover griff zu. Sie packte ihren Freund an beiden Schultern und schüttelte ihn durch. »Larry, du kannst alles von mir verlangen, aber sage nicht, daß wir noch einmal zu diesem Horrorgesicht gehen sollen. Tu das nicht, bitte. Ich will es einfach nicht. Ich kann nicht länger hier bleiben. Ich will weg!« schrie sie plötzlich. »Hast du gehört, ich will weg!«
Er nickte heftig. »Ja, Kim, ich habe dich verstanden. Und wir werden verschwinden.«
Im nächsten Augenblick sagte sie noch nichts. Dann drückte sie ihren Kopf gegen seine Brust und flüsterte: »Ich will auch nicht mehr hier in diesem Land bleiben. Ich will zurück nach London.«
»Das sowieso.«
»Wie meinst du?«
»Ich muß da jemandem Bescheid geben.«
Sie schaute ihn an. »Conolly?«
»Zum Beispiel.«
»Und dann?«
Larry Lutz streckte seinen Arm aus. »Was wir hier erlebt haben, das war nicht normal, das war auch keine Spinnerei, das ist ein Fall für Bill und seinen Freund Sinclair. Verstehst du, Kim?«
Diesmal verstand sie und hatte auch nicht die geringsten Einwände.
***
»Nett, daß du mich besuchst«, sagte ich und grinste Bill Conolly an, als er meine Wohnung betrat.
»Rede nicht so. Schließlich weiß man, was man einem Freund schuldig ist.«
»Was denn schuldig?«
Bill winkte ab und hängte seine Jacke auf. Im Wohnzimmer, in das wir beide gingen, blieb er stehen und hob zwei Finger an. »Zunächst einmal soll ich dir die besten und herzlichsten Grüße von Sheila bestellen, und dann möchte ich gern von dir einen guten Drink serviert bekommen. Aber nur, wenn du einen mittrinkst.«
»Was denn? Whisky, Cognac?«
»Ist mir egal.«
»Hast du vor, dir einen hinter die Binde zugießen?«
»Nein, aber ich werde abgeholt. Sheila kommt nachher noch auf einen Sprung vorbei.«
»Das finde ich nett.«
Bill rieb seine Hände und ließ sich in den Sessel fallen. »Also, was ist mit dem Drink?«
Ich hatte mich für Cognac entschieden; zwei Gläser waren schon recht gut gefüllt, aber die Flasche brachte ich trotzdem lieber mit.
»Danke«, sagte der Reporter und prostete mir zu. »Auf was sollen wir trinken?«
»Keine Ahnung.«
Mein Freund verdrehte die Augen. »Früher wußtest du das immer.«
»Früher«, wiederholte
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