1011 - Laurins Totenwelt
Aber ich glaube dir, wenn du Beweise haben möchtest. Die kann ich dir auch geben, keine Sorge. Außerdem tue ich es gern, denn ich möchte dich staunen sehen. Willst du mir folgen?«
»Das muß ich ja wohl.«
»Ja, denn hier habe ich das Sagen, auch wenn du es geschafft hast, den Eingang sehr weit zu öffnen.«
»Man muß nur den richtigen Schlüssel besitzen«, erklärte ich, fügte aber nichts hinzu.
Statt dessen folgte ich ihr und holte auch auf. Jessica war auch zu riechen. Ihrer Kleidung oder ihrem Körper entströmte ein Geruch, der mich an alte Erde und ebenfalls alte Pflanzen erinnerte, die irgendwann einmal in diesem Erdreich vermodert waren. Sie hatte mir von Laurins Totenwelt berichtet, und ich fragte mich, ob sie tatsächlich auch in dieser Welt gewesen war und deshalb diesen Geruch abstrahlte. Sollte diese Welt existieren, mußte sie sich hier in der Nähe befinden. Obwohl die Höhle schon mehr als merkwürdig war, glaubte ich nicht, daß sie zu dieser Welt gehörte.
Das Licht ließ ich an. Neues entdeckte ich auch nicht. Die Umgebung blieb gleich, zumindest, was den Boden und die Decke angingen, denn Wände hatte ich noch nicht gesehen.
Aber es gab sie.
Plötzlich war das Hindernis für mein Licht vorhanden. Der Strahl wurde nicht mehr von dieser Schwärze geschluckt, sondern traf auf eine wundersame Wand.
Ja, wundersam und außergewöhnlich, so daß ich zunächst einmal stehenblieb, um sie genauer zu betrachten.
Die Wand war sehr breit. Ich entdeckte weder einen Anfang noch ein Ende. Aber das war es nicht, was mich so verwunderte, mir ging es einzig und allein um das Material, denn einen derartigen Fels hatte ich noch nie gesehen.
Er schimmerte in einer blauen Farbe. Kobaltblau.
Ein dunkles und ein helles Blau zugleich. Beide Farben liefen ineinander, sie gaben Schatten ab, sie enthielten gewisse Farbnuancen, wodurch die Wand auch nicht glatt aussah, sondern so, als bestünde sie aus mehreren dünnen Schichten, die übereinandergelegt worden waren und deshalb diese Farben so schimmern ließen.
Ein kleines Wunder und nicht normal. Von einer anderen Macht geschaffen, die Abtrennung zu einer anderen Welt.
Auch Jessica war nicht mehr weiter auf die Grenze zugegangen und nicht weit von mir stehengeblieben. »Das ist das Tor. Es ist das Tor zu Laurins Totenwelt.«
»Diese Mauer?«
»Du siehst nicht nur eine Mauer. Du stehst vor dem, was nur wenige Menschen in ihrem Leben zu Gesicht bekommen haben. Ich hatte das Glück, zu ihnen zu gehören, denn ich bin schon vor meiner Bestrafung in dieser Totenwelt gewesen.«
»Was geschah dort?«
»Da empfing ich seinen Segen.«
»Zwischen den Toten?«
»Sicher.«
»Welche Toten?«
Jessica drehte den Kopf, um mich anzuschauen. »Möchtest du sie sehen, soll ich sie holen?«
Ich nahm die Sache locker und sagte: »Wenn wir schon einmal hier sind, warum nicht?«
»Gut«, sagte sie und lächelte dabei geheimnisvoll. »Aber warte hier. Bewege dich nicht von der Stelle. Es wird dir nichts passieren.« Bei ihren letzten Worten war sie schon auf die Wand zugegangen, und ihre Stimme hatte einen hallenden Nachklang bekommen, was auf eine Veränderung schließen ließ, die ich allerdings nicht sehen konnte. Es wurde nur plötzlich kalt, als Jessica die kobaltblaue Wand mit ihrem ausgestreckten Arm berührte und einfach weiterging, als wäre sie nicht vorhanden. Aber sie war da, und Jessica drückte sich hinein. Sie hatten sich für sie geöffnet, und um die Gestalt der Frau herum erschien eine türkisfarbene Lichtaura, die sie auch weiterhin auf ihrem Weg begleitete und mir dabei ein Zuschauen ermöglichte.
An Wunder glaubte ich nicht. Ich mußte mich auf magische Kräfte einstellen, doch was hier ablief, konnte mich schon an meiner Ansicht zweifeln lassen.
Jessica blieb natürlich von meinen Gedanken unberührt. Sie schritt tiefer in Laurins Totenwelt hinein, als wäre es für sie alles völlig normal. Ich konnte auch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie tatsächlich tiefer in die Wand hineinglitt, denn ihr Gehen war mehr ein Gleiten, unter Umständen blieb sie auch auf gleicher Höhe, denn in oder hinter dieser Wand schienen die Gesetze der Physik aufgehoben worden zu sein.
Dann blieb sie stehen. Sie drehte sich. Eine Frau, eine Gestalt im türkis – farbenen Licht, die tatsächlich lebte, aber auf mich einen künstlichen Eindruck machte.
Sie hob die Arme.
Ich hatte mich bereits daran gewohnt, keine Hände zu sehen. Sie blieb auch weiterhin so stehen,
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