1011 - Laurins Totenwelt
daß ich in ihr Gesicht schauen konnte.
Jessica lächelte. Sie bewies durch ihr Lächeln, daß sie sich wohl fühlte, aber ihr Blick sagte anderes. Sie schaute an sich hinab, als würde sie sich selbst nicht mehr gefallen. Das allerdings war eine Täuschung. Der Blick auf die Füße hatte mich nur auf die bückende Bewegung vorbereiten sollen, die jetzt folgte.
Obwohl sie keine Hände hatte, streckte Jessica ihre Arme dem Boden entgegen. Für mich gab es in diesem Grenzwall zwischen den Welten keinen normalen Boden, denn dort, wo Jessicas Füße standen, war das Blau dicht wie ein Vorhang geworden. Auch die Reste ihrer Hände verschwanden in dieser Farbe, und mit diesen Stümpfen umklammerte sie etwas, das sie dann hervorholte und mir präsentierte.
Es war eine Gestalt, ein kleines Wesen, ein dichter, blauer Körper und trotzdem ein Skelett. Jessica streckte es mir entgegen, und es sah so aus, als wollte sie es mir im nächsten Moment zuwerfen, was sie aber nicht tat.
Ich staunte wirklich, denn mit diesem Beweis hätte ich nicht gerechnet. Und Jessica hielt ihr Versprechen auch weiterhin ein, denn sie dachte nicht daran, in Laurins Totenwelt zu bleiben. So glatt wie sie in diese Sphäre hineingelaufen war, so sicher bewegte sie sich auch wieder aus ihr hervor, und das türkisfarbene Licht verschwand in dem Augenblick, als sie die Grenze zwischen den Welten überschritten hatte und wieder in meine direkte Gegenwart hineintrat.
Ich war erstaunt und ließ es mir auch anmerken, denn ich nickte ihr zu. »Das war außergewöhnlich, Jessica. So etwas schafft nicht jeder Mensch, gratuliere.«
»Es ist nicht meine Macht, es ist die seine. Ich habe lange darum gekämpft, und ich habe sie bekommen. Es ist für mich etwas Wunderschönes, sie erleben zu dürfen. Ich fühlte mich als Pendlerin zwischen den Reichen und Welten, und ich habe dir diesmal etwas mitgebracht, damit du dich überzeugen kannst.«
»Was ist das?«
»Schau es dir gut an!«
Ich folgte ihrem Rat und leuchtete das Wesen sogar an. War es ein Skelett, war es nur ein Körper aus Stein? Jedenfalls war dieses Wesen tot, daran gab es nichts zu rütteln.
Starr wie aus Stein. Auch bläulich schimmernd, aber mehr ins Dunkle hineingehend. Die Knochen, die Rippenbögen – alles war vorhanden, aber zwischen ihnen gab es nicht die Lücken wie bei einem normalen Skelett. Hier waren sie mit einer harten Masse ausgefüllt worden, die aussah wie gefärbtes Pech.
»Ja, ich habe es gesehen«, sagte ich.
»Sehr gut. Hast du eine Meinung dazu?«
Die hatte ich wohl, aber ich verneinte die Frage.
»Oh«, sagte sie, »du enttäuschst mich. Dabei habe ich gedacht, daß du einen Schritt weiterdenken würdest.«
»Laurin?« sagte ich.
»Schon besser«, lobte sie mich.
»Einer seiner Zwerge, der gestorben ist!«
»Ja!« Beinahe hätte sie gejubelt. »Das ist nicht nur gut, das ist sogar super. Damit siehst du, daß es ihn gibt. Laurin und auch seine Zwerge. Aber nicht jeder darf sie sehen, nicht jeder darf in ihre Welt, und sie hüten sich auch davor, die ihre zu verlassen. Nur in sehr hellen Vollmondnächten kann man sie sehen, aber die meisten Menschen haben für diese Geschöpfe keinen Blick.«
»Woran ist denn dieser Zwerg gestorben?« fragte ich.
Sie schaute ihn an, als könnte sie es von seiner Gestalt ablesen.
»Ich kann es dir nicht sagen. Nicht alle leben ewig, auch nicht in der Welt des Laurin.«
»Aber du bist nicht aus seiner gekommen«
»Nein, aus der Totenwelt.«
»Und du hast auch deine Hände nicht vermißt?« Mit dieser Frage brachte ich die Unterhaltung in eine andere Richtung, die mir persönlich lieber war.
»Nein, wozu?« Sie riß ihre Arme hoch. »Wozu sollte ich sie vermißt haben? Wenn ich sie brauche, dann sind sie für mich da. Ich kann sie holen, wann immer ich will.«
»Auch jetzt?«
»Natürlich, aber ich will sie nicht. Sie müssen noch einige Aufgaben erledigen.«
»Welche denn?«
»Es gibt Menschen, die ich nicht mag, und das wissen auch meine Hände. Sie wollen die Rachetour vollenden, erst dann werde ich sie wieder zu mir zurückholen.«
»Das ist schlecht, Jessica.«
»Für mich nicht.«
Ich wiegte den Kopf. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich möchte nämlich nicht, daß es noch mehr Tote gibt. Es reicht mir jetzt. Das solltest du verstehen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hier bestimme ich!«
»Nein, nicht mehr.« Ich zog die Beretta, denn die rechte Hand hatte ich noch frei. Die Mündung der Waffe schwebte nicht
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