1015 - Henkeraugen
aßen, verhielten sich völlig normal. So auch wir, das Personal und die Gäste.
Das war mit normalen Mitteln nicht zu verstehen. Hier war für eine Anzahl bestimmter Personen eine andere Welt in die normale hineingedrückt worden. Unter anderem zählten wir dazu und natürlich die Chestertons, die wiederum nichts taten und einfach nur auf ihren Plätzen saßen, die Köpfe gedreht, die Blicke auf den Henker gerichtet.
Ich näherte mich ihm von hinten. Seine Kutte war grau, beinahe schon schwarz und hatte auf der Oberfläche einen leichten Stich ins Grünliche bekommen. Zudem hatte sie der Henker über den Kopf gezogen, so daß ich sein Gesicht nicht sah.
Dafür sein Beil.
Ein langer Griff, den er mit der rechten Hand umklammert hielt, und eine mächtige Klinge. Bei derartigen Ausmaßen brauchte man nur einen Schlag, um einem Menschen den Kopf vom Körper trennen zu können. Das traute ich ihm zu. Er hatte seine fremde Welt in die normale mit hineingebracht, und die eigenen Nachkommen würde er als Opfer ansehen.
Ich war noch immer hinter ihm. Er nahm keine Notiz von mir. Ich kam noch näher heran. Ich spürte die Wärme, die vom Kreuz auf meine Hand hin abstrahlte. Es war ein gutes feeling, ein warmer Strom, der auch meine Fingerspitzen erreichte.
Dann war die Kälte wieder da!
Ich hatte sie zwar nicht vergessen gehabt, allerdings auch nicht mehr daran gedacht. Und sie war deshalb zu spüren, weil ich in die direkte Nähe des Henkers geriet.
Ich spürte ihn, er spürte mich.
Und er fuhr herum.
So schnell wie es kein Mensch schaffen kann, sondern nur eine Gestalt, die kaum Kontakt zum Boden besaß. Es war ein schattenhaftes Kreisen, vielleicht sogar eine magische Pirouette, aber ich befand mich im Zentrum seiner verfluchten Magie.
Ich sah sein Gesicht.
Ein Gesicht ohne Augen.
Es war nicht einmal häßlich, wie ich im Bruchteil einer Sekunde feststellte, es war einfach nur schaurig, weil es ohne die Augen aussah wie eine Maske.
Grau-grünlich gestrichen. Leere Augenhöhlen. Über der Lippe schimmerte ein schwarzer Oberlippenbart. Die Augenhöhlen waren leer wie alte Trichter. In der Haut Poren und hauchdünne Risse.
Eine Gestalt, von der eine wahnsinnige Kraft ausging, die ich wie eine Last empfand, als wollte sie mich erdrücken.
Daß ich mich in einem Luxus-Restaurant befand, kam mir nicht in den Sinn. Ich war ein Gefangener dieser Zwischenwelt, in der der Henker regierte.
Er war herumgeschwungen.
Er drehte sich noch einmal.
Und diesmal fuhr wie ein Schatten das verdammte Beil in die Höhe. Die Blutklinge, deren scharfe Schneide schon zahlreichen Menschen den Kopf vom Körper getrennt hatte.
Auch mir?
Ducken, ausweichen, zur Seite tänzeln, das alles hätte in einem Film passieren können. In der Wirklichkeit schaffte ich es nicht. Mir gelang es nur noch, in einer Reflexbewegung den Arm hochzureißen und der Gestalt das Kreuz zu zeigen.
Einen Lidschlag später würde mir die Klinge den Kopf abtrennen…
***
Eugen Chesterton war wieder zurück in die Halle gegangen und hatte sich dort hingesetzt wie jemand, der auf etwas Bestimmtes wartete. Er saß steif auf seinem Stuhl. Sein Rücken berührte die harte Lehne, und sein Blick war nach vorn gerichtet, ins Leere hinein und zugleich auch zur Treppe hin.
Auch Jane hielt sich in der Halle auf. Sie spürte ein Bedürfnis. Sie wußte, daß sie den Jungen nicht aus den Augen lassen durfte, denn ihn umgab das Geheimnis der Henkeraugen, obwohl er es selbst nicht genau erklären konnte.
Auch Jane nahm sich einen Stuhl. Sie rückte ihn so zurecht, daß sie den größten Teil der Halle unter Kontrolle hatte; das schloß die Person des Jungen mit ein.
Beide waren still. Jane hätte gern die entsprechenden Fragen gestellt, aber sie wußte, daß sie bei Eugen auf Granit stoßen würde. Er sprach nur, wenn er wollte. Er hatte seinen eigenen Kopf. Er setzte alles durch. Er war jemand, der voll unter dem Einfluß der anderen und längst verstorbenen Person des Rodney Chesterton stand.
Und das mit elf Jahren.
Jane Collins wollte es nicht akzeptieren. Sie wehrte sich innerlich dagegen, obwohl die Tatsachen anders aussahen. Der Junge hatte sich voll und ganz auf die Seite dieses Henkers gestellt, und das sicherlich nicht freiwillig.
Jane wußte zu wenig über Rodney Chesterton. Wie hatte er gelebt?
Mit wem hatte er Kontakt gehabt? Was war in seinem gewalttätigen Leben alles passiert? Welche Wege war er gegangen? Wer mußte man überhaupt sein, um ein
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