1015 - Henkeraugen
aufstand, Eugen den Rücken zudrehte, um anschließend mit langsamen, aber dennoch zielsicheren Schritten auf die Treppe zuzugehen.
Sie wartete auf Eugens Reaktion, doch der Junge schwieg. Entweder war er überrascht oder wollte einfach nur abwarten, welchen Plan sein »Babysitter« verfolgte.
Die Halle erinnerte Jane Collins mehr an einen düsteren Tempel, der mit der Kraft einer unheimlichen Welt gefüllt war. Hier zu leben, machte wirklich keinen Spaß, aber sie wollte in diesem Haus auch nicht sterben und wie ein Deliquent auf den berühmten Moment warten. Deshalb mußte sie etwas tun.
Ihr rechter Fuß berührte bereits die erste Stufe, als sie Eugens Stimme hörte. »Wo wollen Sie denn hin?«
Jane stoppte und drehte sich nach links. »Ich werde nach oben gehen, mein Junge.«
»Und was machen Sie da?« Seine Stimme vibrierte leicht. Er schien unsicher geworden zu sein.
»Ich schaue mich dort um.«
»Da gibt es nichts zu sehen.«
»Das laß nur meine Sorge sein.« Jane lächelte ihm zu und setzte ihren Weg fort. Wenn Eugen etwas dagegen hatte, dann mußte er jetzt aus seiner Reserve gelockt werden. Er tat zunächst nichts, hielt sich zurück, und Jane ging weiter, dem ersten Bogen der breiten Treppe zu.
Sie hatte ihn noch nicht erreicht, als Eugen sie ansprach. Die Nervosität in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Es ist besser, wenn Sie bei mir bleiben, Miß Collins.«
Jane ging zunächst weiter. Sie wollte sich noch nicht drehen und lieber das Lächeln auf ihrem Gesicht verbergen. Der Junge war nervös geworden, und das mußte seinen Grund haben. Schließlich blieb sie stehen und drehte sich um. »Warum sollte ich denn nicht weitergehen und zurück zu dir kommen? Weil ich dein Babysitter bin?«
»Nein, auf mich kann ich schon allein achtgeben.«
»Darüber denken deine Eltern aber anders. Sonst hätten sie mich nicht engagiert.«
Eugen ging so weit vor, bis er den Beginn der Treppe erreicht hatte. Er schaute hoch, reckte dabei sein Kinn und sagte: »Da oben ist seine Welt.«
Jane hatte das betonte Wort schon verstanden. »Das weiß ich, Eugen, und ich will seine Welt ebenfalls sehen. Sie interessiert mich. Ich bin schließlich zu deinem Schutz hier. Der Rahmen ist leer, Eugen. Dein Freund, der Henker, ist verschwunden. Wir beide glauben doch daran, daß er zurückkehren wird. Wenn er dann tatsächlich wieder hier erscheint, wird er den gleichen Platz einnehmen. Darauf warte ich, denn ich möchte ihn näher kennenlernen.«
»Das dürfen Sie nicht.«
»Was hast du dagegen?«
»Er ist jemand, der auch Sie töten kann. Noch haben Sie ihm nichts getan, sonst wären Sie schon tot, Miß Collins, aber das kann sich ändern. Glauben Sie mir.«
»Wir haben ja Zeit.« Jane hatte ihm die Antwort lächelnd erklärt.
Der Junge war intelligent genug, um einsehen zu können, daß er sie nicht hatte überzeugen können. Er blieb zunächst zurück. In seinem Gesicht bewegte es sich. Er biß mit den Schneidezähnen auf der Unterlippe herum und rieb dabei die feuchten Handflächen gegeneinander.
Jane Collins setzte ihren Weg fort. Eugens Reaktion hatte ihr bewiesen, daß sie auf dem richtigen Weg war. Der Flur über ihr war seine Welt, da herrschte Rodney, der Henker, obwohl er das Bild verlassen hatte.
Bevor Jane den Flur betrat, zögerte sie einen Moment. Schaute nach rechts, dann nach links. Sie sah die Gemälde an den Wänden.
Ihre Blicke streiften über die düsteren Porträts. Wieder kam ihr der Gedanke, daß es in dieser Ahnenreihe wohl keinen freundlichen Menschen gegeben hatte. Die Chestertons wirkten durch die Bank weg düster und auch blasiert.
Ob der Junge ihr folgte, wußte sie nicht. Sie drehte sich auch nicht um. Das leere Bild war für sie wichtig. Obwohl sich dort niemand mehr zeigte, wußte sie, daß es noch immer einen besonderen Inhalt besaß.
Es hatte nicht nur etwas mit der Gestalt des Rodney Chesterton zu tun, das hatte sie bereits beim ersten Passieren der leeren Leinwand gespürt. Da war etwas zu ihr herübergekommen und hatte sie wie ein Kribbeln berührt.
Sie lauschte den eigenen Tritten nach. Ansonsten hörte sie keinerlei Geräusche. Die Welt hier oben war eine andere, aber sie paßte ebenfalls zu der Düsternis des Hauses.
Noch zwei Schritte, dann hatte sie das Bild erreicht. Der Rahmen, düster und schlicht. Die leere Leinwand, die keinerlei Beschädigung aufwies. Niemand hatte die Gestalt des Henkers aus dem Bild herausgeschnitten. Er war gegangen und fertig.
Aber wo
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