1015 - Henkeraugen
derartiges Amt ausüben zu können?
Eugen hätte ihr möglicherweise mehr sagen können, aber er schwieg, und seine Lippen waren zusammengepreßt. Ein kleiner, schon beinahe tückischer Mund, ein starres Gesicht, das zu der starren Haltung paßte. Der Junge wirkte wie seine eigene Wachsfigur.
Wie er so auf seinem Stuhl hockte, schien er auf etwas zu warten.
Zusätzliche Sorgen machte sich Jane auch wegen Sarah Goldwyn.
Warum hatte sie ihr Haus verlassen? Weshalb hatte sie mit ihr nicht darüber gesprochen?
Hatte sie mehr gewußt?
Jane wollte ihr nichts in die Schuhe schieben, aber Lady Sarah war auf eine gewisse Art und Weise raffiniert. Trotz zahlreicher böser Erfahrungen ging sie keiner magischen Konfrontation aus dem Weg.
Nicht ohne Grund wurde sie schließlich als Horror-Oma bezeichnet.
Zwar hatte sie sich in der letzten Zeit etwas zurückgenommen, aber im Geheimen arbeitete sie gedanklich schon weiter und würde es auch schaffen, gewisse Pläne zu realisieren. Nicht für sich selbst, mehr für andere, wie eben Jane.
Möglicherweise hatte sie mehr über den Henker gewußt, als sie Jane gegenüber zugeben wollte, aber das brachte die Detektivin auch nicht weiter. Die einzige Spur war das Wissen des Eugen Chesterton, und das mußte sie aus ihm herauskitzeln.
Jane wußte selbst nicht, wieviel Zeit vergangen war, als sie Eugen wieder ansprach. »Du bist mir noch eine Antwort schuldig, Junge.«
»Welche denn?«
»Ich möchte nur wissen, wohin dein Freund, der Henker gegangen ist.«
»Er geht seinen Weg!«
»Das denke ich auch. Aber wohin?«
»Ich habe ihn nicht gefragt.«
»Ach!« staunte Jane, »obwohl du mit ihm einen recht engen Kontakt gehabt hast?«
»Nein, nicht zu eng.«
»Hast du keine Angst um deine Eltern?«
Eugen hob die Schultern. »Warum sollte ich?«
»Befürchtest du nicht, daß ihnen der Henker etwas antut?«
»Das weiß ich ja nicht.«
»Und wenn es doch geschieht?«
Eugen senkte den Blick. »Sie haben sich nie zu ihm bekannt. Sie haben ihn gehaßt. Sie haben sein Bild oft genug verhängt oder haben es bespuckt. Es gab Zeiten, da wollten sie es zerstören oder verbrennen, aber sie haben es sich immer wieder anders überlegt. Er hat es gespürt, das müssen auch sie gemerkt haben, und er kann nicht vergessen, daß es die eigene Familie war, die ihm damals die Augen herausgeschält und ihn dann getötet hat.«
»Aber das Bild wurde gemalt?«
»Ja, schon zuvor. Es war so Sitte bei uns in der Familie. Von jedem Mitglied wurden Gemälde angefertigt. Das Bild ist seine Heimat, seine Welt…«
»In die er sicherlich zurückkehren wird – oder?«
»Das glaube ich.«
»Aber du hast immer wieder mit ihm gesprochen, Junge. Du mußt besser informiert sein. Du hast in ihm doch einen Freund gesehen, einen Beschützer, was weiß ich…«
»Ich habe ihn verstanden. Jemand mußte den Beruf ja ausüben. Er hat nicht mehr als seine Pflicht getan, aber man hat es ihm nicht gedankt. So ist dann alles zusammengekommen. Lange hat er warten müssen, nun aber ist die Zeit reif.«
»Dann ist sein Geist in das Bild hineingetaucht«, sagte Jane. »Sehe ich das so richtig?«
»Daran glaube ich auch.«
»Und weiter, Eugen? Woran glaubst du noch?«
»Daß er jeden töten wird, der nicht zu ihm steht. Alle, die gegen ihn sind, werden ihr Leben verlieren. Man muß ihn akzeptieren, man muß einfach Reue zeigen. Dann wird er vielleicht auch vergessen. So weiß ich es.«
»Spricht er mit dir?«
Eugen lächelte. Seine Haltung hatte sich noch immer nicht verändert. »Es ist kein Sprechen, mehr ein Fühlen. Ja, ich kann ihn fühlen. Seine Wünsche und seine Gedanken. Für mich ist es einfach wunderbar, Miß Collins. Ich möchte nie mehr anders leben. Ich werde immer einen Freund haben, wenn ich vor dem Bild stehe und ihn anschaue. Und ihm wird kein Mensch etwas anhaben können. Das Bild ist sicher.« Er nickte. »Sehr, sehr sicher sogar…«
Jane Collins dachte über die letzten Worte genauer nach. Weshalb hatte Eugen mit einer derartigen Intensivität gesprochen? Darüber mußte sie sich einfach Gedanken machen. Er hatte es nicht grundlos getan, die Betonung war dagewesen. Er gehörte zu den Menschen, die voll und ganz vertrauten.
Das Bild war seine Heimat.
Jetzt war es leer.
Ein Rahmen, eine Leinwand.
Auch eine Chance?
Jane gehörte zu den Frauen, die sich schnell entschließen konnten.
Hier war es nicht anders. Sie wartete nicht einmal fünf Sekunden, bevor sie mit einer ruckartigen Bewegung
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