1015 - Henkeraugen
steckte er?
Jane wußte noch immer keine Lösung. Innerhalb des Hauses vielleicht, das wahrscheinlich einen Keller hatte? Sie konnte sich auch vorstellen, daß diese Gestalt einen besonderen Weg genommen hatte, zu einem ebenfalls besonderen Ziel, über das sie keinen Bescheid wußte.
Alles war anders geworden. Noch bedrückender. Das Verschwinden der Henkergestalt hinterließ bei ihr wahrlich keinen positiven Eindruck. Im Gegenteil, sie empfand es noch bedrückender, und sie ignorierte ihre Gänsehaut nicht.
Janes Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Leinwand. Eben auf die leere Fläche. Wirklich leer. Es war kein Farbtupfer und kein Strich mehr zu sehen, und trotzdem empfand Jane Collins sie nicht wie eine normale Leinwand.
Die hier hatte etwas.
Es war zu dunkel, um es genau herausfinden zu können, und so bewegte sich Jane noch einen kleinen Schritt darauf zu. Aus der Nähe betrachtete sie die Fläche innerhalb des Rahmens und überlegte dabei, was dort anders sein konnte.
Die Leinwand selbst?
In diesem schwachen Licht war die eigentliche Farbe nicht genau zu bestimmten. Jede Malfläche aus Leinen ist nicht glatt. Es gibt immer wieder Falten und kleine Muster. Da machte diese hier auch keine Ausnahme. Sie sah im Prinzip normal aus, nur wollte Jane trotz allem daran nicht glauben.
Etwas störte sie gewaltig, und das hing mit der Dicke des Materials zusammen. Es war noch eine Vermutung. Jane ging trotzdem davon aus, daß die Malfläche dicker war als eine normale Bildleinwand. Natürlich wollte sie es genauer wissen. Der nächste Schritt war noch kleiner. Dicht vor der Leinwand blieb sie stehen. Jane zog ihre Nase kraus. Es hatte seinen Grund, denn sie gestand sich ein, daß von der Leinwand ein besonderer Geruch ausströmte. Genau zu identifizieren war er nicht. Ein Geruch, der ihr allerdings wenig angenehm war. Der Magen zog sich zusammen, und irgendwie ekelte sie sich auch vor ihm. Er roch so alt und auf eine bestimmte Art und Weise nach Mensch.
Jane Collins schluckte. Schweiß trat aus ihren Poren. Sie kam mit dem Geruch nicht zurecht, obwohl er sie an etwas erinnerte, das tief in ihr verborgen war.
Aber was?
Ich muß sie anfassen, dachte Jane.
Ich muß sie, verdammt hoch mal, berühren.
Sie wunderte sich selbst darüber, wie schwer es ihr fiel, einfach nur die Hand auszustrecken und mit den Fingern über das Material hin wegzugleiten. Beinahe wäre sie zurückgezuckt, als der erste Kontakt vorhanden war.
Leinwände sind normalerweise trocken. Diese hier war es nicht.
Unter ihren Fingerkuppen hatte sie deutlich den feuchten Film gespürt. Sogar leicht klebrig.
Jane war irritiert. Bevor sie zum zweitenmal hinfaßte, schaute sie sich das Viereck genauer an. Es gab keinen feuchten Glanz ab, es zeigte auch kein auffälliges Muster, aber sie hatte noch etwas festgestellt. Die Leinwand war dicker als die normale. Um sie einzudrücken, hätte sie sogar mehr Kraft aufwenden müssen.
Dicker als normal.
Kein Leinen…
Urplötzlich drückte sich ihr Magen zusammen.
Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr auf. Das Blut schoß in ihren Kopf. Es rötete ihr Gesicht. Ohne es zu wollen, war sie ins Schwitzen gekommen. Ihr Herz schlug noch schneller, und der Verdacht erhärtete sich immer mehr.
Kein Leinen, sondern etwas anderes.
Haut!
Genau das war es. Zwischen den vier Rahmenseiten war Haut gespannt worden, und das Bild des Henkers war eben auf Haut gemalt worden. Stellte sich nur die Frage, ob es Tier- oder Menschenhaut war. Tierhaut hätte sie noch akzeptieren können, aber Menschenhaut…
Jane wollte nicht nervös werden, aber sie wurde es. Etwas kribbelte über ihren Rücken. Die Haut im Nacken straffte sich, ihr Herz schlug schneller, und die dünne Haut am Hals zuckte. Sie merkte auch das leichte Brennen in den Augen, den Schweiß auf ihren Handflächen, und sie flüsterte Worte, ohne sie selbst verstehen zu können. Dabei baute sich in ihrem Innern ein besonderes Gefühl auf, das ausschließlich im Zusammenhang mit dem Material der Leinwand stand. Es war ungemein wichtig. Es war möglicherweise die Lösung.
Wieder unternahm sie einen Versuch. Mit einer heftigen Geste wischte Jane ihre rechte Handfläche ab. Sie wollte die Haut trocken haben, um die besondere Feuchtigkeit der Leinwand noch besser spüren zu können. Dann würde auch die innere Stimme zurückkehren und ihr möglicherweise eine Lösung anbieten.
Jane streichelte die Haut. Ihre Hand fuhr schräg von oben nach unten. Es war ein
Weitere Kostenlose Bücher