102 - Die Gottesanbeterin
ihm verlangte. Aber jetzt hatte sich die Situation derart zugespitzt, daß er kräftige Verbündete und Leibwächter von der Art Akinosukes und Yamatos gut gebrauchen konnte, und sie vertrauten ihm blind.
Taketsura schloß sie Tür ab. Aus dem Einbauschrank nahm er eine Edelholzkiste. Er stellte sie auf den niedrigen Tisch mit dem Strauß Treibhauskirschenblüten und öffnete sie. Vorsichtig entfernte er die roten und weißen Seidentücher.
Ein Kopf lag in der Kiste. Er war etwa so groß wie der Kopf eines Menschen und offenbar aus Porzellan gefertigt. Das Gesicht war völlig glatt, ohne jede Falte oder Unreinheit. Die Brauen der asiatischen Mandelaugen waren wie bei verheirateten Frauen rasiert. Das schwarze, in der Mitte gescheitelte Haar lag eng an, und der kirschrote Mund lächelte. Unten am Hals endete der Kopf glatt; man sah nur eine weiße Fläche.
Taketsura stellte den Kopf auf ein paar Seidentücher, steckte die Hände in die Ärmel des Kimonos und verneigte sich ein wenig vor dem Kopf.
„Hörst du mich, O-toku-San?"
„Ich höre dich, Sensei Taketsura", sagte der Puppenkopf. „Ich spüre, daß du große Sorgen hast und Unheil herannaht. Ich habe Angst, Sensei."
Ein Sensei war ein Meister, einer, der Gewalt hatte über andere. Entsetzen spiegelte sich im Gesicht des Puppenkopfes. Wieder bewegten sich seine Lippen.
„Von überall her nähert sich Gefahr", sagte der Kopf. „Der Samurai mit der Eisenmaske jagt uns, der Schwarze Tomotada. Und da ist noch ein Samurai."
Davon wußte Taketsura nichts. Ein Samurai genügte ihm völlig. Isogai Taketsura hatte den Keramikkopf vor einiger Zeit mit Hilfe seines Kami zu den Freaks von Tokio gebracht, die ihn als ein Heiligtum und ein Orakel verehrten. Damit hatte Taketsura die Freaks in seinem Sinn oder vielmehr in dem der hinter ihm stehenden Macht beeinflussen wollen. Er rechnete auch damit, daß der Kokuo no Tokoyo seinen Samurai Tomotada schicken würde, um den Keramikkopf zu holen. Dieser Kopf hatte ein Wissen, daß dem Kokuo no Tokoyo, dem Herrscher vom Niemandsland, sehr gefährlich werden konnte. Der Kokuo no Tokoyo war kein anderer als der Dämon Olivaro, der große Ränkeschmied mit den zwei Gesichtern, der Dämon der Falschheit. Taketsura und auch Tomotada kannten ihn nur als Kokuo.
Taketsura zog es vor, daß die Freaks den fürchterlichen Samurai gegen sich hatten, als daß er mit diesem Feind rechnen mußte. Tomotada hatte die Freaks mit seinem Tomokirimaru vernichtet. Der Keramikkopf war auf magische Weise zu Isogai Taketsura zurückgekehrt.
Doch der Schwarze Samurai hatte dann doch die richtige Fährte aufgenommen; oder jemand hatte ihn darauf gebracht. Jedenfalls war er jetzt hinter Isogai Taketsura und seinen Sumotori her.
Isogai Taketsura wußte nicht, wen er mehr fürchten sollte, Tomotada oder seinen Kami. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als den Puppenkopf los zu sein. Er sollte ihn im Hakone-Nationalpark im Auftrag seines Kami seinem rechtmäßigen Besitzer bringen. Dann würde der Kopf sein Wissen endlich preisgeben, und damit würden die Verbrechen des Kokuo no Tokoyo - Olivaro - aufgedeckt sein.
Das mußte für Olivaro schlimme Folgen haben, denn es gab Mächte, die auch er fürchten mußte und die ihn bestrafen würden. Deshalb versuchte er mit allen Mitteln, die Übergabe des Keramikkopfes zu verhindern. Und Isogai Taketsura war das Korn zwischen den Mühlsteinen.
Taketsuras Gedanken waren abgeschweift. Er wandte sich wieder dem Kopf zu.
„Was hast du gesagt, O-toku-San?"
„Das Tomokirimaru des Schwarzen Samurai bringt das Verderben, Taketsura-san. Bring mich zu meinem Körper - bitte! Dann werde ich all mein Wissen deinem Herrn preisgeben. Wenn er es weiß, sind wir nicht mehr allein die Gefährdeten. Dann sind wir unwichtig. Du mußt mich zu meinem Körper bringen. Was mit dem zweiten Samurai ist, kann ich nicht ergründen. Aber auch von ihm droht uns Gefahr."
„Ist er ein Verbündeter Tomotadas?"
„Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht."
„Vielleicht kann man die beiden Samurais gegeneinander ausspielen. Was weißt du über diesen zweiten Samurai?"
Aber der Keramikkopf wußte nichts über den zweiten Samurai, mit dem kein anderer als Unga gemeint war.
Isogai Taketsura tröstete nun den Kopf und sich selbst.
„Bald wird es soweit sein, O-toku-San. Bald wirst du deinen Körper haben. Die Jikininki im Geishatal bewacht ihn. Sie erwartet uns bereits. Wir müssen nur noch einen günstigen Zeitpunkt abwarten." Ein
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