102 - Die Gottesanbeterin
Kommandostab, der Vexierer und der Magische Zirkel nützten Dorian aber im Moment wenig. In der Gefängniszelle befand sich kein Magnetfeld, mittels dessen Dorian und Unga hätten wegspringen können.
Sie mußten wohl oder übel warten. Unga sprach mittlerweile recht gut Englisch, Französisch und Deutsch.
„Wir wollen nur die nötigsten Worte miteinander wechseln und uns so viel wie möglich der Zeichensprache bedienen", sagte Dorian auf französisch zu Unga. „Vielleicht befinden sich in dieser Zelle Mikrofone, und wir werden abgehört."
Unga nickte. Ihm war nicht nach Reden zumute. Er legte sich auf die obere Pritsche, Dorian auf die untere. Da ging das Licht in der Zelle aus. Sicher waren die beiden Männer durch den Spion in der schweren Eisentür beobachtet worden.
Dorian konnte nicht so schnell einschlafen. Er dachte nach, und seine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit, zu seinem fünften Leben, das er als Tomotada gelebt hatte, als der Schwarze Samurai, der Diener Olivaros.
Dorian wußte, daß die Geschehnisse in der Gegenwart eng mit seinem fünften Leben verknüpft waren. Doch er konnte sich immer nur bruchstückweise erinnern. Manchmal war es, als erlebte er die Zeit als Tomotada noch einmal nach, ungeheuer intensiv. Dann wieder war er Beobachter der abrollenden Geschehnisse, so wie ein Filmzuschauer. Doch Dorian spürte die Gedanken und Empfindungen der Hauptpersonen, teilte ihre Ängste und Hoffnungen.
So war es auch diesmal, und doch wieder anders.
Eine Geschichte aus vergangener Zeit rollte vor Dorians geistigem Auge ab. Es war, als würde er diese Geschichte lesen und zugleich selbst erleben. Die Geschichte erwachte zum Leben. Zugleich aber war sie eine Kunstform, denn sie war nicht dem üblichen Zeitablauf unterworfen. Unwichtige Zeitspannen wurden übersprungen oder gerafft.
Tomotada, der Schwarze Samurai, spielte eine Rolle in dieser Geschichte. Dorian hatte diesmal zu diesem seinem früheren Selbst kein anderes Verhältnis, als zu den anderen Personen der Geschichte. Er war ein neutraler Beobachter.
Es sah so aus, als würde der Dämonenkiller in der Gestalt des kleinen buckligen Japaners schlafen. Regelmäßig ging sein Atem. Aber sein Geist schweifte in die Vergangenheit.
Matsue, Frühjahr 1607.
Eine neue Zeitepoche hatte für Japan begonnen: die Edo-Zeit. Der grausame Oda Nobunaga und der große Herrscher und Staatsmann Hideyoshi hatten Japan geeint. Die Kriegskunst hatte durch die Verwendung von Musketen eine Umwandlung erfahren. Die Japaner hatten mit den Portugiesen, den Spaniern, den Engländern und Holländern Kontakt gehabt, und Missionare bemühten sich, das Christentum in Japan zu verbreiten. Aber über Hunderttausend stieg die Zahl der Bekehrten nie wesentlich hinaus.
Tokugawa leasu war seit 1603 der Shogun, der Machthaber im Lande.
In dieser Zeit des Umbruchs und der Neuerungen lebte in der Stadt Matsue, der Hauptstadt der Präfektur Shimane, der Bildereinrahmer Bascho Yosuke mit seiner Frau Yodogimi. Bascho war ein Mann von hoher Kunstfertigkeit. Nie hatte man gehört, daß er ein Gemälde verdorben hatte, das er auf eine Holzplatte kleben und mit Brokatstreifen einfassen mußte. Durch seine schönen Rahmen wurden selbst unbedeutende Bilder zu Schmuckstücken und Kunstwerken. Bascho Yosuke stand in hohem Ansehen, und es ging ihm gut. Er hätte mit seinem Leben zufrieden sein können. Aber er hatte Kummer. Seine Ehe war kinderlos geblieben, und jetzt näherte seine Frau sich schon dem Alter, in dem sie nicht mehr empfangen konnte. Eine andere Frau wollte Bascho sich nicht nehmen, denn er liebte Yodogimi sehr.
Auch sie litt unter ihrer Kinderlosigkeit. Alles hatten sie schon versucht, hatten Tränke zu sich genommen, bestimmte Mondphasen abgewartet und der Kishibojin, der Göttin der Fruchtbarkeit, geopfert. Umsonst.
Jetzt sah Bascho nur noch einen Ausweg. Er wollte zu Sengoku Yajiro gehen, dein Daimyo, dem Herrscher von Matsue. Sengoku Yajiro war ein Samurai aus altem Geschlecht. Durch seine unerschrockene Tapferkeit und seine Tüchtigkeit im Felde hatte er Karriere gemacht und es bis zum Daimyo von Matsue gebracht. Der große Hideyoshi selbst hatte ihn zum Herrscher über die Stadt und die Präfektur ernannt. Jetzt waren Sengokus Kampfzeiten vorbei, denn er zählte schon mehr als sechzig Jahre.
Dieser Daimyo und Samurai aber hatte eine O-toku-San, eine lebensgroße Puppe, die Fruchtbarkeit verleihen konnte. Die Kishibojin selbst hatte ihr diese Gabe
Weitere Kostenlose Bücher