1035 - Die Totenkammer
in der Hand.
Es war nicht so alt wie die Sprüche und Formeln darin. Denn sie stammten von einem Volk, das nicht in Europa lebte, sondern im fernen Asien seine Heimat gehabt hatte.
Irgendwo auf einer der zahlreichen indonesischen Inseln war es den Menschen gelungen, den Tod zu überwinden. Allein durch Sprechen, durch das Aufsagen bestimmter Rituale in einem bestimmten Rhythmus. Nur so konnten die Kräfte zwischen dem Diesseits und dem Jenseits erweckt werden.
Levine wußte, daß die Toten keine Seelen mehr besaßen. Sie waren nicht mehr als Hüllen. Roboter aus Haut und Knochen. Nur mußten diese erst aktiviert werden. Andere Kräfte sollten sie bestimmen, und wenn dieses Kräfte einmal gepackt hatten, dann gehorchten die Wiederbelebten demjenigen, der sie gerufen hatte.
Tristan Levine atmete tief aus. Seine Gedanken hatten ihn erregt und schwindlig gemacht. Die Flammen um ihn herum tanzten plötzlich, und er kam sich vor wie in einem Feuerkreis, ohne allerdings eine entsprechende Hitze zu spüren.
Er hatte sich das große Ritual für die Nacht vorgenommen. Nun aber, als seine Hände das Buch berührten, da merkte er den Strom der Kraft, der ihn durchrieselte.
Für Tristan Levine war es wie ein Omen. Die andere Seite hatte sich bei ihm gemeldet und ihm klargemacht, daß die Zeit jetzt gut war. Sie spürte mehr als er. Sie drängte ihn, seinen Plan vorzuziehen, und genau das wollte er tun.
Das Buch war nicht besonders dick. Es fand in der Innentasche seiner Jacke Platz. Bevor er sich an die Arbeit machte, mußten bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden.
Wichtig war seine tote Frau!
Er trat an den Sarg heran und beugte sich über das Gesicht, das auch noch im Tod so wunderschön aussah. Er faßte Marita nicht an, er sprach nur zu ihr und berichtete ihr mit leiser Stimme davon, daß er sie bald aus dem Sarg holen würde.
»Es ist lange genug dein Platz gewesen, meine Liebe. Du wirst es bald gut haben, und wir werden wieder vereint sein.« Mit einer zärtlichen Bewegung strich er über die Wangen der Toten hinweg, bevor er sich drehte und schon einmal zwei Kerzen mitnahm.
Er stellte den Ständer dort zu Boden, wo das Licht auch die Gesichter und Körper der fünf toten Frauen erreichen konnte. Es warf seinen warmen Schein darüber hinweg, aber all diese Reflexe wirkten anders als bei seiner geliebten Marita. Sie hauchten den Gesichtern kein Leben ein. Sie ließen sie so flach und bleich. Diese fünf hatten eben nichts Besseres verdient. Sie waren auch nur Mittler zum Zweck und nichts anderes.
Levin holte auch die anderen beiden Kerzen. Der Raum wurde jetzt gut erhellt. Durch den Widerschein der unterschiedlichen Farben bekamen die Wände ein Eigenleben. Sie sahen aus, als würden sie sich an bestimmten Stellen sogar öffnen und dann wieder schließen, als wären die Flammen dabei, Lücken in das Gestein zu reißen.
Das wichtigste lag noch vor Levine. Er ging wieder zurück zu seiner Frau und holte sie aus dem Sarg. Als er sie hochzog, erwischten ihn die Gefühle. Er hielt die starre Tote in seinen Armen, und er dachte daran, wie es gewesen war, als sie noch gelebt hatte.
Da hatte er die Wärme ihres Körpers gespürt. Die Weichheit, auch die zarte Haut, die ihn immer an hellen Samt erinnert hatte. Es war so wunderbar gewesen, und es würde wiederkehren, davon war der Professor voll und ganz überzeugt.
Marita lag auf seinen Armen wie ein Braut, die Dracula sich geholt hatte. Eine steife Person, aber nicht blutleer, nur eben ohne Leben.
Das Gesicht der Professors blieb starr, als er mit der Toten auf den anderen Raum zuging.
Er überschritt die Schwelle. Der Kerzenschein gab dem Keller keine gemütliche Atmosphäre, wie es wohl normalerweise der Fall gewesen wäre. Nein, hier bewegten sich die Schatten, hier schienen sich die Wände zu öffnen, hier herrschten die Mächtigen, die normalerweise den Blicken der Menschen verborgen waren.
Um seinen Mund herum lag ein kantiger Zug, als er zwischen zwei toten Frauen hindurchschritt und sich dem Mittelpunkt des kleinen, inneren Kreises näherte, der aus verschiedenen Füßen gebildet wurde.
Es gab noch genügend Platz, um Marita hinlegen zu können. Vorsichtig setzte er die Tote ab. Levine wollte nicht, daß sie fiel. Sie sollte sitzenbleiben. Deshalb knickte er die starren Beine zusammen, was nicht leicht war, doch er schaffte es und konnte die Frau schließlich auf den Boden setzen.
Dort blieb sie hocken. Zwar etwas zur rechten Seite hin gedrückt, aber
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