1035 - Sphinx
beruhen lassen und nicht an die Behörden von Terrania weitergeben würde. Daß den beiden Menschen und dem Matten-Willy die Flucht aus der Stadtverwaltung von Shonaar gelungen war, gehörte zweifellos nicht zu den Ereignissen, an die sich ein Mann wie Deerno gerne erinnerte. Vermutlich war Deerno sogar froh, Ellmer, Srimavo und den Matten-Willy endlich los zu sein.
In den ersten ruhigen Minuten nach ihrer Ankunft in Terrania jedoch fragte sich Ellmer, was ihn überhaupt zu dieser Flucht bewegen hatte. Er hatte sich schließlich nichts zuschulden kommen lassen, und die Aussichten, alle Rätsel um das Mädchen zu lösen, waren in Shonaar wesentlich größer gewesen.
Was wollen wir überhaupt hier? fragte sich der ehemalige Raumfahrer mit zunehmender Verwirrung, als er begann, ihre wenigen Habseligkeiten auszupacken und in einem Wandschrank unterzubringen. Sie hatten ein paar neue Kleider für Sri gekauft. Das Kind war, kaum daß sie das Zimmer betreten hatten, auf einem der drei Betten eingeschlafen.
Parnatzel lag in seiner natürlichen Gestalt unter dem Fenster und döste. Das Wesen hatte bereits während der Fahrt mit der Rohrbahn einen erschöpften Eindruck gemacht.
Ellmer blickte zu dem Bett, auf dem Srimavo lag. Er fühlte eine gewisse Erleichterung, daß sie die Augen geschlossen hatte. Aber auch jetzt, im Zustand des Schlafes, wirkte das magere Kind ungewöhnlich.
Ellmer schloß den Wandschrank und trat ans Fenster.
„Wach auf!" fuhr er den Matten-Willy an.
Parnatzel zog sich unwillig zusammen, aber nachdem Ellmer ihn leicht mit der Fußspitze berührte, begann er ein Pseudoauge zu bilden und den Terraner damit böse anzustarren.
„Sie schläft fest", erklärte Ellmer. „Es wird Zeit, daß wir uns unterhalten und uns über unsere Absichten klar werden."
„Hat das nicht bis später Zeit?" erkundigte sich Parnatzel.
„Nein", sagte Ellmer kategorisch. „Du weißt, daß wir einen Fehler begangen haben.
Dieses Kind gehört nicht zu uns. Wir hätten sie den Behörden überlassen müssen."
„Du meinst Deerno?" fragte Parnatzel mit allen Anzeichen des Widerwillens.
„Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, mit euch nach Terrania zu fliehen - wie ein Verbrecher", fuhr Ellmer fort. „Auf jeden Fall werde ich das Versäumte so schnell wie möglich nachholen. Wir geben diese kleine Sphinx bei den Behörden in Terrania ab."
„Und wenn sie nicht damit einverstanden ist?"
„Du weißt ja nicht, was du redest, Parnatzel. Sie ist nicht älter als zwölf und damit minderjährig. Irgend jemand ist für sie verantwortlich, vermutlich ihre Eltern. Auch wenn wir wollten - wir dürfen sie nicht bei uns behalten."
Parnatzel seufzte.
„Ich kenne einen Teil eurer unsinnigen Gesetze. Ist das, wovon du redest, eines davon?"
„Ja", nickte Ellmer. „Aber es ist nicht unsinnig, sondern zweckmäßig."
„Zweckmäßig!" wiederholte Parnatzel entsetzt. „Das könnte von Deerno sein."
Ellmer machte ein entschlossenes Gesicht.
„Auf keinen Fall kann sie bei uns bleiben", erklärte er.
Er hatte plötzlich das untrügliche Gefühl, daß ihn jemand von hinten ansah, und wandte sich um. Srimavo war aufgewacht und hatte sich auf die Ellenbogen gestützt. In dieser Haltung sah sie Ellmer und das Protoplasmawesen an.
Wieder entstand in Ellmers Bewußtsein diese Vision eines dunklen Feuers, ein schemenhaftes Bild, das sich nicht festhalten ließ. Er hatte das Gefühl, von den beiden unergründlichen Seen, die Srimavos Augen waren, unwiderstehlich angezogen zu werden.
Er lehnte sich gegen das Fenster.
„Es tut mir aufrichtig leid, Sri", sagte er. „Aber ich beginne allmählich zu glauben, daß du Hilfe brauchst."
Sie kletterte vom Bett. Auch in den jugendlichen Kleidern, die Ellmer für sie ausgesucht und gekauft hatte, wirkte sie nur bei oberflächlicher Betrachtung wie ein Kind. Ellmer sah sie zur Tür gehen.
„Wohin willst du?" erkundigte er sich.
„Ich gehe weg", verkündete sie.
Auf dem Weg zur Pension hatte Ellmer ihr empfohlen, den Kopf möglichst gesenkt zu halten, damit ihr nicht jeder ins Gesicht schauen konnte, denn er war überzeugt davon, daß ein solcher Blick auf den Betrachter eine überwältigende Wirkung besaß. Sphinx hatte sich danach gerichtet, aber nun hatte sie wieder ihre übliche Haltung eingenommen.
Ellmer brachte nicht die innere Kraft auf, ihr den Weg zur Tür zu versperren, aber er folgte ihr in ein paar Metern Abstand. Parnatzel glitt schimpfend hinter ihnen her.
Die
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