1037 - Zurück aus dem Jenseits
Harrys Stimme gewesen! Sie hätte sich freuen müssen, doch etwas hatte sie daran gestört. Diese Stimme war nicht normal gewesen. Sie hatte irgendwie verzweifelt geklungen, auch so schwach, und Dagmar wunderte sich im nachhinein zudem, warum Harry nicht eingegriffen hatte.
Etwas stimmte da nicht.
Sie stand auf.
Harry stand an der anderen Seite des Tisches. Er schaute über ihn hinweg. Seine Augendeckel bewegten sich dabei zuckend, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sie offen oder geschlossen halten sollte. Außerdem hatte er seine Hände um die Lehne des Stuhls gekrallt. Auch das war kein normaler Griff. Harry sah so aus, als suchte er einen bestimmten Halt.
Dagmar ging einen Schritt vor, stoppte aber dann. »Was hast du denn, Harry?«
Sein Mund verzog sich. »Ich… ich …«, mehr brachte er einfach nicht hervor.
»So rede doch!«
»Ich kann nicht… nicht … mehr sehen …«
Dagmar hatte die Worte gehört und fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Ihr lag die Antwort auf der Zunge, nur schaffte sie es nicht, sie auszusprechen.
»Hast du mich verstanden?«
Sie nickte, obwohl ihr klar war, daß er es nicht sehen konnte, wenn alles stimmte.
»Ich kann nichts mehr sehen!« Der Klang seiner Stimme war jetzt schrill geworden, und er stieß schnaufend den Atem aus. Schweiß bedeckte sein Gesicht, aber auch Tränen rannen aus seinen Augen.
»Mein Gott«, flüsterte Dagmar. Zugleich schoß ihr durch den Kopf. Es ist wahr! Es muß wahr sein. Er hat mich nicht angelogen.
Dennoch startete sie einen Test. Heftig bewegte sie ihre rechte Hand vor Harrys Gesicht hin und her. Die Bewegung bekam er nicht mit.
Er spürte höchstens den Luftzug. Kein winziges Zucken in seinen Augen verriet, daß er etwas mitbekommen hatte.
Dagmar lagen viele Fragen auf der Zunge. Zunächst aber mußte sie den Kloß nach unten würgen, um überhaupt sprechen zu können. Sie schaffte es schließlich, aber sie sprach leise, sehr leise. »Wie ist das möglich, Harry? Wie konnte das geschehen?«
»Die Hexe.«
»Wie?«
»Ja, sie. Ich betrat das Zimmer. Ihr Strahl erwischte mich. Er drang aus dem dritten Auge. Er hat mich geblendet. Es war schrecklich, Dagmar. Plötzlich hatte ich Splitter in den Augen, und alles ist so dunkel geworden.«
»Auch… auch jetzt?« fragte sie, obwohl ihr diese Worte dumm vorkamen.
»Ja und nein. Es geht besser.«
Sie war nicht erleichtert. Dann hätte Harry anders gesprochen.
»Kannst du mich sehen?«
»Nein.«
Die Enttäuschung bohrte sich wie ein glühender Nagel in sie hinein. Sie mußte gegen den Schwindel ankämpfen, und plötzlich haßte sie die Hexe noch mehr.
»Es tut mir so leid, Dagmar…«
Sie ging auf ihn zu. Er sollte ihre Nähe spüren und so etwas wie einen schwachen Trost erleben. Dagmar küßte ihn auf den Mund und legte ihre Hände flach gegen Harrys Brust. »Ich bin bei dir, ich werde auch bei dir bleiben, und ich bin sicher, daß du bald wieder sehen kannst. Es ist doch schon besser geworden – oder?«
»Etwas nur.«
»Gut, sehr gut.« Harry brauchte jetzt Trost und Aufmunterung, beides wollte ihm Dagmar geben. »Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten. Ich weiß, daß ist leichter gesagt als getan, aber wir beide schaffen es. Wir gehen durch dick und dünn. Und wir werden jetzt nach Oberstdorf in ein Krankenhaus fahren. Dort wird man sich um deine Augen kümmern. Du wirst wieder gesund werden. Ich weiß das. Mach dir bitte keine Sorgen mehr, Harry.«
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Ich liebe dich auch, Harry.« Sie drückte ihn an sich. »Wenn das vorbei ist, werden wir feiern, darauf kannst du dich verlassen. Wir packen es, ich schwöre es dir.«
»Was ist mit der Hexe?«
»Ich habe die Kugel zerstört.«
»Auch sie?«
»Marianne ist verschwunden, Harry. Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Aber das ist jetzt unwichtig. Wir müssen hier raus und so schnell wie möglich in eine Klinik.«
»Jamina ist…«
»Vergiß sie zunächst«, flüsterte Dagmar. »Um sie kümmern wir uns später.«
»Lebt sie denn?«
»Ja.«
»Dann wird sie uns mehr über die Hexe sagen können.«
»Klar, das hoffe ich. Aber jetzt komm. Verlaß dich auf mich, ich werde dich führen.«
»Moment noch.« Harry hob eine Hand und tastete das Gesicht seiner Freundin ab. Besonders sorgfältig fuhr er über ihre Stirn hinweg, da er herausfinden wollte, ob sich dort das dritte Auge abzeichnete.
»Es ist nicht mehr da, Harry. Ich bin wieder normal. Als die Kugel zersplitterte, verschwand
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