1041 - Der Rächer
sah aus, als wäre es vom Teufel erschaffen worden.
Dem Geistlichen war innerhalb von Sekunden klar, daß dieser Mann gefährlicher war als der auf dem Friedhof…
***
Der Fremde sagte nichts. Er ließ Pfarrer Michael in Ruhe, damit er ihn betrachten konnte. Vom Körper war nicht viel zu sehen, da ihn die lange Soutane verdeckte. Auch die Hände hielt der andere versteckt. Er hatte sie in die Ausschnitte seiner Ärmel geschoben, und die Sitzhaltung sah beinahe entspannt aus.
Ein langes, knochiges Gesicht mit balkenartigen Augenbrauen, einer oben schmalen und unten breiten Nase, düsteren Augen und einem harten Mund mit dicken Betonlippen. Das Haar wuchs dunkel, wellig und lang um den Kopf des Fremden herum, der in der Kleidung des Priesters wie verkleidet wirkte.
»Wer sind Sie?« fragte Michael flüsternd.
»Ein Besucher.«
»Aber kein Gast.«
»So ist es, Pfaffe. Ich bin ein Besucher von der anderen Seite, verstehst du?«
Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe das nicht. Es tut mir leid.«
Der Mann im Sessel kicherte. »Ich glaube, daß du es nicht begreifst. Ja, das glaube ich. Aber es spielt auch keine Rolle, mein Lieber. Ich bin von der anderen Seite. Man hat mich geschickt, um Menschen wie dich aus dem Weg zu räumen.«
Der Geistliche hatte ihn wohl verstanden. Mit dem Begreifen tat er sich schwer. Er bekam nicht in die Reihe, daß er gleich zweimal am Tag und so kurz hintereinander lebensgefährlich bedroht wurde.
Und das von zwei verschiedenen Personen.
»Was habe ich getan? Was kann ein alter Mann wie ich Ihnen denn schon angetan haben? Wollen Sie mich auch verbrennen wie dieser andere auf dem Friedhof?«
Zum erstenmal zeigte der Besucher eine Gefühlsregung. »Nein, ich werde dich nicht verbrennen, aber ich bin der echte Rächer.«
»Das… das … verstehe ich nicht.«
»Es ist ganz einfach. Daß der andere plötzlich das Heft in die Hand nahm, konnte selbst ich nicht ahnen. Er ist einer Täuschung, einem Irrtum erlegen, aber es paßt hervorragend in meine Pläne, als hätte mein Freund, der Teufel, selbst Regie geführt. Vielleicht ist es sogar so gewesen. Man kann nie wissen.«
»Der Teufel?« schnappte der Pfarrer.
»Ja. Oder Asmodis. Der Satan. Der Dunkle Engel. Der Herrscher auf dem Höllenthron – wie du willst…«
Pfarrer Michael war unerschütterlich in seinem Glauben. Davon ließ er sich auch unter Druck nicht abbringen. »Die Hölle ist besiegt worden«, erklärte er. »Man hat dem Satan den Stachel gezogen. Da können Sie reden, was Sie wollen.«
Der namenlose Besucher amüsierte sich köstlich. »Glaubst du daran, was du da gesagt hast?«
»Das ist meine feste Überzeugung.«
»Für die du auch sterben würdest?«
»Wenn es sein muß, schon.«
Der andere lachte breit und zischte dabei, als würde Dampf sein Maul verlassen. »Es muß sein, es wird sein, Pfaffe. Ich werde dafür sorgen. Du wirst an deinem eigenen Blut ersticken, mein Freund.«
Nach diesen Worten stand er mit einer geschmeidigen Bewegung auf und ging einen langen Schritt nach vorn.
Der Geistliche wagte nicht, sich zu rühren. Er war wie gelähmt. Er hörte nur das heftige Schlagen seines Herzens, als wollte es beweisen, daß es noch vorhanden war, denn bald würde es nicht mehr schlagen, wenn alles so ablief wie es die andere Seite wollte.
An Flucht dachte der Pfarrer zwar, nur konnte er dies vergessen.
Er war zu schwach, zu alt, und sein unheimlicher Besucher bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Tänzers immer weiter auf ihn zu.
Etwa eine Armlänge vor ihm blieb der Mann stehen. »Möchtest du noch ein Gebet sprechen?« höhnte er.
»Ja«, gab der Pfarrer zurück. »Ja, ich würde gern ein Gebet sprechen. Aber nicht für mich, sondern für Sie. Für ihre arme und jämmerliche, verirrte Seele…«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Hör auf, so zu reden. Es bringt nichts. Ich habe mich entschlossen und…«
»Unser Herrgott verzeiht.«
»Aber nicht ich!« erklärte der düstere Mann, der noch immer seine Hände in den Ärmeln versteckt hielt.
»Sind Sie denn mehr?«
»Ja, das bin ich!«
»Sie… Sie … stellen sich über …«
Der andere lachte nur. Und dann bewegte er sich. Sehr schnell, so daß der Pfarrer erschrak. Er zerrte die Hände aus den Ärmeln hervor, und der Geistliche sah, wen er vor sich hatte.
War es ein Mensch?
Er wußte es nicht, denn die Hände des Mannes waren auf keinen Fall menschlich. Sie waren Klauen mit langen, spitzen Fingern, deren Enden wie
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