1041 - Der Rächer
Warum?«
Der Priester hob die Schultern, soweit es ihm möglich war. »Bitte, Charlene, vielleicht werde ich es dir später einmal sagen, aber jetzt möchte ich dich bitten, mich zu befreien, falls es dir möglich ist. Über alles andere reden wir später.«
Sie nickte. Ihr Gesicht war leer geworden. Charlene war tief in den eigenen Gedanken versunken, und als sie ging, da sah sie aus wie eine ferngelenkte Puppe.
In der unmittelbaren Nähe des Gefesselten roch es stärker nach Benzin. Das Mädchen verzog das Gesicht. Sie sah auch die nassen, benzingetränkten Stricke, die eng um den Körper des Geistlichen geschlungen waren.
»Ich habe aber kein Messer.«
»Ich auch nicht, Charlene. Versuche bitte, die Knoten zu lösen. Sie sind hinter mir.«
»Ja, ich schaue mal.«
Charlene ging um den hohen Grabstein herum. Der Pfarrer hatte recht. Die Stricke waren um den Grabstein und auch um ihn geschlungen und an der Rückseite verknotet worden. Sehr schnell stellte das Kind fest, daß es nur ein Strick war, der beide in mehreren Windungen umschlang.
Sie sah auch den dicken Knoten und schaute ihn sich genau an.
Zwar sah er hart und fest aus, aber es war nur ein Doppelknoten.
Ihn würde sie lösen können.
Zum Glück war es nicht frostig. So konnte Charlene die Finger normal bewegen. Sie hatte nur Schwierigkeiten mit dem klammen Strick, aber der Pfarrer trieb sie nicht. Er ließ sie gewähren, und Charlene kümmerte sich hingebungsvoll um den Knoten. Beide Hände hatte sie zu Hilfe genommen. Sie zerrte und zupfte, war auch nahe daran, aufzugeben, als ein Fingernagel brach, aber sie machte weiter und freute sich, als sie eine Lockerung spürte.
»Gleich habe ich es, Herr Pfarrer!«
»Du bist ein kleines Wunder, das mir der Himmel geschickt hat, Charlene.«
Das Mädchen errötete aufgrund des Lobs und engagierte sich noch mehr. Charlene schaffte es. Plötzlich hatte sie den Knoten geöffnet. An beiden Seiten rutschten die Strickenden nach unten. Der Rest war nur noch ein Kinderspiel. Zudem half der Geistliche noch mit, aber er schaffte es nicht mehr, sich auf den Beinen zu halten. Als er den Widerstand nicht mehr spürte, gaben seine Knie nach. Er sank nach vorn und blieb vor dem hohen Grabstein auf der feuchten Erde hocken, wobei er nicht vermeiden konnte, daß ihm Tränen aus den Augen rannen.
Charlene kam zu ihm und blieb rechts von ihm stehen. Sie schaute auf den Pfarrer herab und versuchte zu lächeln.
Er sah es und schüttelte den Kopf. »Ich bin eben ein alter Mann, Charlene.«
»Das ist doch nicht schlimm.«
»Danke, meine Kleine. Aber jetzt muß ich aufstehen.« Er bemühte sich, doch er hatte seine Schwierigkeiten damit, und das Kind erkannte, daß es ihm helfen mußte.
Mit beiden Händen faßte Charlene zu und half dem Geistlichen auf die Beine. Er kam nur mühsam hoch und war froh, sich an der Schulter des Kindes abstützen zu können.
»Soll ich dich zu deinem Haus bringen, Pfarrer Michael?«
»Das wäre nett.«
Beide gingen. Der Pfarrer stolperte noch über den Kanister und warf ihn um. Auch das restliche Benzin floß hervor und versickerte im Boden.
Charlene nahm noch ihre Blockflöte mit, dann war auch sie froh, daß sie den Friedhof verlassen konnte. Es war inzwischen fast dunkel geworden. Eine Laterne stand nicht in der Nähe, und so tappten beide durch die anbrechende Finsternis und vorbei an der hohen Kirchenmauer, bis sie die Umrisse des kleinen Pfarrhauses sahen, das aussah, als würde es sich gegen den Boden ducken.
»Soll ich dich reinbringen, Pfarrer Michael?«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich komme schon allein zurecht.« Er stützte sich an der Tür neben der Hauswand ab.
Charlene schaute zu dem alten Mann hoch. »Und was willst du jetzt machen?«
»Mal sehen.«
»Der Mann wollte doch Schlimmes mit dir tun…«
»Ja, das stimmt.«
»Willst du nicht zur Polizei?«
»Ich werde sie anrufen.«
»Gut. Was soll ich meinen Eltern sagen?«
»Zunächst einmal nichts. Warte noch damit. Ich werde im Laufe des Abends bei euch anrufen, dann kann ich mit deinen Eltern alles besprechen. Abgemacht?«
Charlene hatte den Kopf schief gelegt. »Ja, Herr Pfarrer, aber das gefällt mir nicht.«
Er lächelte. »Es ist auch nicht das Wahre, Kind, aber es ist besser so. Glaube es mir.« Er beugte sich zu Charlene nieder und strich über ihren Kopf. »Danke, meine Liebe. Vielen, vielen Dank. Du hast einem Menschen das Leben gerettet, und der Himmel wird dich dafür belohnen.«
Das Mädchen
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