1043 - Engelkinder
umgeschaut und nichts durchsucht. Das hätte ich nie gewagt.«
»Schon gut.«
»Wollen Sie denn nachschauen?«
»Das muß ich wohl.«
»Aber Sie brauchen mich nicht dazu - oder?«
»Nein, Mr. Myers, Sie können gehen. Vielen Dank noch mal, daß Sie mir geholfen haben.«
Er winkte etwas verlegen ab. »Ach, das macht doch nichts. Es war meine Pflicht, denke ich.«
Myers wollte gehen, aber er wollte auch noch etwas sagen, das sah ich seiner Haltung an.
»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?« fragte ich.
Er wiegte den Kopf. »Ja, man kann es so sagen. Es ist mir ja peinlich, das auszusprechen, ohne Ihnen Ratschläge erteilen zu wollen, aber ich glaube, daß die Mieterin zwar freiwillig aus dem Leben geschieden ist, es aber letztendlich doch nicht so freiwillig gewesen war. Haben Sie mich verstanden?«
»Nein, leider nicht.«
»Nun ja, von irgendeiner Seite wird man nachgeholfen haben. Ich kannte Lilian Purdom zwar nur vom Sehen her, aber sie hat auf mich nie den Eindruck einer Selbstmörderin gemacht.«
»Sie werden lachen, Mr. Myers, aber ich glaube Ihnen.«
»Ja, dann bis später.«
»Ach so ja, da fällt mir was ein. Gibt es hier im Haus jemand, mit dem Lilian mehr Kontakt gehabt hat? War sie vielleicht mit jemand befreundet?«
»Oh, da fragen Sie mich zuviel.«
»Hätte ja sein können.«
»Soll ich mich mal umhören?«
»Wäre nicht schlecht. Ich werde es auch tun.«
»Okay, dann hören wir wieder voneinander.« Der Hausmeister verließ jetzt die Wohnung, und ich blieb allein zurück, wobei ich mir verloren und zugleich auch wie ein Eindringling vorkam, der die Intimsphäre eines Menschen zerstörte.
Das Schlafzimmer hatte ich durchsucht, blieb noch der Wohnraum. Auch hier wollte ich mich umschauen. Verstecke gab es nicht viele. Keinen Schrank, sondern eine luftige Schrankwand. Eine Kommode und einen Schreibtisch aus Kiefernholz mit einem Stuhl davor, dessen Sitzfläche einen karierten Bezug hatte.
Mit der Kommode fing ich an. Dort hatte Lilian nur ihr Geschirr abgestellt. In den Schubladen fand ich Bestecke und auch Servietten, die mit kleinen Engeln bedruckt waren. Diese wiederum hielten Kerzen in den Händen und ihre Münder offen, als wären sie dabei, ein Lied zu singen.
Auch nichts.
Blieb der Schreibtisch.
Auch ein schlichtes Möbelstück aus Kiefernholz. Die Leuchte war normal, sie zeigte verspieltes Design. Nichts wies auf irgendeinen Engel hin. Ich wunderte mich über den Blumenstrauß, der so frisch aussah, als wäre er erst vor Stunden gekauft worden. Irgend etwas stimmte da einfach nicht.
Mir wollte nicht in den Kopf, daß sich jemand, der Selbstmord begehen wollte, noch frische Blumen kaufte. Da wäre ein Abschiedsbrief normaler gewesen. Den fand ich nicht, denn die Platte des Schreibtisches war leer.
Kugelschreiber, ein Füller, ein Tintenfaß, ein Zettelblock, eine Unterlage, kein PC, auch kein Bild, das irgendeinen Verwandten gezeigt hätte.
Lilian hatte sehr allein gelebt. Aufgrund dessen war sie, eigentlich ein ideales Opfer für diese Sekten und Menschenfänger. Menschen, die mit sich selbst Probleme hatten, ließen sich eben besser manipulieren. Der Schreibtisch besaß an jeder Seite drei Schubladen. Ich setzte mich auf den Stuhl und zog die unterste Schublade auf der rechten Seite auf. Sie lief auf Schienen, aber der Inhalt enttäuschte mich, denn ich fand nur ein altes, zusammengeknülltes T-Shirt.
In der nächsten Lade lagen einige nicht zu dicke Bücher, die ich hervorholte. Rasch überflog ich die Titel und kam zu dem Ergebnis, daß ich keines der Bücher kannte.
Die Inhalte drehten sich alle um das gleiche Thema, und das sagten auch die Titel aus.
DER BESTE WEG IN DEN HIMMEL. Oder: SORGEN AUF ERDEN - FREUNDE IM HIMMEL!
Dann: WARUM ES SICH SCHON AUF ERDEN LOHNT, EIN ENGEL ZU WERDEN!
Ich legte die drei Bücher nebeneinander und schaute auch nach den Verfassern.
Es gab nur einen.
Normalerweise gaben die Autoren ihre Vor- und Zunamen preis. Bei diesen Büchern war es anders.
Aber sie stammten vom gleichen Verfasser, und der hatte sich das Pseudonym Kalima ausgesucht.
Den Namen hatte ich nie gehört. Er hörte sich nicht sehr engelhaft an, aber die Bücher schienen für Lilian Purdom so etwas wie eine Bibel gewesen zu sein, denn neu sahen sie nicht aus, sondern schon an- oder durchgelesen.
Die Deckblätter der Umschläge zeigten weiche Farben. Rosa und blau herrschten vor. Wahrscheinlich beschäftigte sich ihr Inhalt mit dem Reich der Engel. Ich nahm mir
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