1044 - Die Braut des Engels
»Ich kann dir keine Erklärung geben, John.«
»Ja, das weiß ich. Ich hätte es auch nie von dir verlangt, aber ich werde eine finden müssen.«
»Gibt es sie denn?« fragte Evita leise.
»Bestimmt« erklärte ich nickend. »Es gibt für alles eine Erklärung, auch wenn es schwer ist, das zu begreifen. Aber du brauchst keine Sorge zu haben, ich werde sie finden. Vielleicht finden wir sie auch gemeinsam, Evita.«
»Ja, das wäre gut.« Scheu schaute sie dorthin, wo die Gestalt erschienen war. Jetzt gab es dort nur die normale Wand zu sehen.
»Hast du denn eine Erklärung, wo sie hingegangen ist, John?«
»In ihr Reich.«
»Zu den Engeln?«
»Nein, das glaube ich nicht. Wer immer diese Person auch sein mag, ich möchte sie nicht als einen Engel bezeichnen. Sie ist etwas anderes, etwas, das zwischen Engel und Mensch liegt.«
»Ein Götze?«
Die Frage überraschte mich. Ich drehte mich scharf um. »Wie kommst du denn darauf?«
Sie hob die Schultern, und ich schaute auf ihr ängstliches Gesicht.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, Evita, ganz und gar nicht. Du hast nichts Falsches gesagt. Überhaupt nicht. Du bist der Wahrheit sicherlich schon sehr nahe gekommen. Ich wundere mich nur darüber, daß du diese Frage gestellt hast. Ich hätte sie nicht erwartet.«
»Das weiß ich von Lilian.«
»Ach…«
Das eine Wort forderte sie dazu auf, weiterzusprechen. »Ja, wir haben ja oft über die Engelkinder und auch einfach nur über die Engel gesprochen. Lilian war der Meinung, daß es immer wieder Engel gegeben hat und auch gibt, die auf die Erde kommen, um sich mit den Menschen zu paaren. Wenn das passiert ist, entstehen daraus andere Geschöpfe.«
»Götzen…?«
»Nein, da habe ich mich geirrt. Es klang nur so ähnlich. Ich meine Götter.«
»So ist das.«
»Ja, John, das hat mir Lilian oft gesagt. Aus dem Zusammenkommen zwischen Engeln und Menschen entstehen Götter.«
»Und weiter?«
»Dann warten die Engelkinder auf die Engel, um sich mit ihnen«, sie verzog das Gesicht. »Na ja, du weißt schon. Die Kinder, die dann geboren werden, sind Götter. So sorgen die Mitglieder der Sekte für die Geburt der Götter.«
Ich erwiderte zunächst einmal nichts, weil ich ziemlich sprachlos war. Aber ich hütete mich, darüber zu lachen oder die Aussagen als baren Unsinn abzutun. Zuviel hatte ich bereits erlebt, und ich wußte auch von alten Sagen und Geschichten, die teilweise sogar von den Propheten stammten, daß sich, wenn Engel und Menschen sich miteinander mischten, Götter entstanden.
So stand es in den alten Texten geschrieben. Doch niemand wußte genau, ob es stimmte oder nicht. Auf der anderen Seite fragte ich mich, warum hätten die anderen Lügen in die Welt setzen sollen?
»Du bist so nachdenklich, John.«
»In der Tat.«
»Glaubst du, was ich dir gesagt habe?«
»Ich schließe es zumindest nicht aus und werde es auch im Kopf behalten.«
Etwas traurig sprach Evita die nächsten Worte aus. »Das ist eigentlich alles, was ich dir sagen konnte. Mehr weiß ich auch nicht. Tut mir wirklich leid.«
»Das braucht dir auf keinen Fall leid zu tun. Du hast mir ein großes Stück weitergeholfen, aber ich hätte noch eine Frage. Was hast du eigentlich getan, als dieses Licht aufstrahlte? Hast du auch dort hineingeschaut?«
»Nein!« erwiderte sie und schaute mich erstaunt an. »Das habe ich gar nicht gekonnt. Es war zu grell. Ich… ich … bin ja geblendet worden. Ich habe mich gedreht und auf den Boden gelegt, die Augen dabei fest geschlossen.«
»Hast du etwas gehört?«
»Nein, ich habe nur den Geruch wahrgenommen. Er hatte sich plötzlich noch verstärkt, John. Das war richtig schlimm für mich. Aber dann ist er verschwunden.« Sie lächelte mir zu. »Ich sah dich auf dem Boden liegen. Ich habe mich um dich gekümmert.«
»Das finde ich auch toll.«
»Und was machen wir jetzt?« Sie hatte sich bei der Frage umgeschaut, auch zur Treppe hin.
Es war genau dieser Blick, der bei mir eine Initialzündung auslöste. Plötzlich fiel mir ein, daß ich nicht allein gekommen war. Wir waren ja zu dritt hergefahren, einschließlich Suko.
»Suko!« flüsterte ich. »Wo steckt er?«
»Unten…?«
Sie hatte das Wort als Frage gestellt.
Ich sagte: »Du bist dir aber nicht sicher.«
»Ja, das stimmt. Ich weiß es nicht genau. Ich habe auch nichts von ihm gehört.«
Das bereitete mir gewisse Sorgen. Ich lief vor bis zur Treppe und schaute hinab. Von Suko hörte ich nichts. Evita und ich hatten hier
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