1050 - Die Nymphe und das Monster
zuzudrehen.
Er ging wie ein Mensch, wenn auch etwas maschinenhaft. Wir waren für ihn uninteressant geworden, als er den Weg in Richtung Sakristei einschlug. Sekunden später hatte er auch den Restschein des Kerzenlichts verlassen.
Grace Felder traute sich wieder aus dem Hintergrund hervor. Ich war ebenfalls gegangen, um die Verfolgung aufzunehmen, und Grace schnitt mir den Weg ab.
»John, was soll das bedeuten?«
»Ich kann es noch nicht sagen.«
»Willst du nicht versuchen, in zu…«
»Nein, nein!« flüsterte ich. »Auf keinen Fall werde ich mich jetzt auf einen Kampf mit ihm einlassen. Er hat eine gewisse Stufe der Entwicklung oder Metarmorphose hinter sich. Er ist auf dem Weg zu etwas anderem, und dabei will er nicht gestört werden. Es geht weiter, Grace, und wir sollten dabei Zeugen sein.«
»Kannst du mir sagen, was du damit meinst?«
»Nein, das kann ich leider nicht. Nur glaube ich fest daran, daß uns Carmacho ans Ziel bringen wird.« Wir selbst sahen ihn nicht mehr, hörten die Echos seiner Schritte aber in der Sakristei.
»Welches Ziel soll das denn sein?«
»Keine Ahnung. Wenn du möchtest, kannst du hier in der Kirche bleiben. Ich werde ihm nachgehen.«
»Nein, das kommt nicht in Frage. Wo denkst du hin? Ich will jetzt alles wissen. Hier ist etwas aufgebrochen, das nicht sein darf. Wir müssen es stoppen. Wie damals in Paxton die Sache mit meinem Vater und den Kindern.« Grace war nervös geworden. »Da haben wir es doch auch gut geschafft.«
»Stimmt.«
»Was glaubst du denn, wie es weiterhin ablaufen könnte? Was will er in der Sakristei«
Ich lächelte schief. »Sorry, Grace, auch wenn ich dich enttäuschen muß, ich denke, daß dieser Raum nicht mehr als eine Zwischenstation ist. Er wird ein anderes Ziel haben, das vermutlich nicht hier in der Kirche liegt.«
Sie hatte verstanden. »Du denkst an den Teich?«
»Ja.«
»Ich auch, John, ich auch. Er ist wichtig. Ebenso wie dieser Altar.«
Wir wollten den Vorsprung nicht zu sehr anwachsen lassen und nahmen die Verfolgung auf. Die Kerzen ließen wir brennen und tauchten wieder hinein in den dunkleren Teil der Kirche und auch in den Schatten der Innenwand mit den hohen Glasfenstern, durch die kaum mehr Licht drang. Nur ein schwaches Grau sickerte noch durch das mit Eisblumen bedeckte Glas.
Wir hatten nicht gehört, daß die Tür zur Sakristei geöffnet oder geschlossen worden wäre. Der Weg war leicht zu finden. Wir sahen die offenstehende Tür und spürten den eisigen Luftzug, der uns entgegen wehte.
Der Veränderte hatte die Kirche bereits verlassen und war an der Rückseite ins Freie getreten. Den Weg nahmen wir auch. Die Sakristei war ein kleiner Raum, den man mit Gegenständen vollgestopft hatte. Wir hatten Glück, daß wir sie nicht mit den Schultern umstießen. »Der Flüchtling hatte die zweite Tür offengelassen. Mit schnellen Schritten hatten wir den Raum durchquert. Grace Felder hielt sich zurück, als ich stoppte. Von der Seite her schaute sie mich an, um an meiner Reaktion zu erkennen, ob sich in der Nähe des Hinterausgangs etwas tat.«
Nein, es war alles normal. Niemand stand in der Nähe, um mich anzugreifen. Keiner erschien aus dem Schatten, aber die Gestalt sahen wir trotzdem.
Es war noch nicht so dunkel geworden. Sie hob sich innerhalb des grauen Lichts sehr gut ab. Ihre Bewegungen waren die gleichen geblieben.
»O Gott«, flüsterte mir Grace Felder zu. »Der geht ja wirklich hin zum Teich.«
»Was dachtest du denn?«
»Und was wird er dann tun?«
»Keine Sorge, das bekommen wir schon mit.« Ich hielt mich nicht länger an der Tür auf und verließ die Sakristei. Die Luft war noch kälter geworden. Sie drückte auch. Es kam uns vor, als lägen eisige Lappen in diesem gräulichen Dämmerlicht, gegen die wir stießen.
Grace hatte sich die Kapuze über den Kopf gestreift, um die Ohren und den Kopf gegen die Kälte zu schützen.
Wir gingen weiter und bemühten uns auch nicht, besonders langsam zu sein. Auf dem hart gefrorenen Boden lagen noch die Blätter vom letzten Jahr herum. Auch sie hatten sich verändert. Sie waren durch die Kälte gebogen. Einige von ihnen hatten raupenähnliche Formen angenommen und sich zusammengekringelt.
Der Veränderte drehte sich nicht einmal um. Wir wußten, daß er als Pfarrer gearbeitet hatte. Äußerlich war er das für uns noch, aber innerlich nicht. Da hatte ich immer mehr das Gefühl, einem Monster nachzugehen. Jemand hatte von ihm Besitz ergriffen. Eine fremde Macht, die
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