1050 - Die Nymphe und das Monster
Schritt. Er stand unter den Bäumen. Die dünnen Zweige der Trauerweiden umhingen ihn wie Ketten. Er störte sich nicht daran. Und er kümmerte sich auch nicht um uns, denn er schaute nur nach vorn.
Ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht. Ich kannte Don Carmacho. Ähnlichkeit mit ihm war nicht mehr vorhanden. Dieser Körper war bis zum Kopf hin haarlos. Es war nur allein seine braune Haut zu sehen, die aussah, als bestünde sie aus kleinen Schuppen oder Platten, die ineinandergeschoben waren.
Er bewegte sich gebeugt. Auf der Haut lag noch immer das Wasser, aber es gefror nicht.
Mich lenkte der Anblick dermaßen ab, daß ich meine kalten Füße einfach vergaß. Ich war einzig und allein darauf fixiert, dieses Monstrum weiter zu beobachten.
Es schlug den Weg zur Kirche ein. Die Nymphe lag dabei wie tot auf seinen Armen. Sie schaukelte bei jeder Bewegung mit. Es war kaum vorstellbar, daß ich noch vor kurzem ihren Gesang gehört hatte. Das lag alles so weit weg.
Den Weg kannte er. Möglicherweise steckte noch ein Teil des menschlichen Bewußtseins in ihm, und so näherte er sich dem rückseitigen Ausgang der Kirche. Er würde mit seiner Beute die Sakristei betreten und von dort aus sein eigentliches Ziel, den Blutaltar, erreichen.
Wir schauten uns um. Etwas ratlos waren wir schon, bis Madge anfing zu sprechen. »Es liegt jetzt an uns, was wir tun. Wir können fliehen, wir können ihn aber auch stellen und so versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Wobei uns klar sein muß, daß wir uns in Lebensgefahr begeben. Ich für meinen Teil werde es versuchen. Ich bin über achtzig Jahre alt geworden. Mich schreckt der Tod nicht.«
Sie blickte dabei Grace und mich an. »Ihr aber seid jung. Euer Leben liegt noch vor euch. Auch wenn man sich oft zu den Siegern zählt, gibt es doch Situationen, bei denen man nachgeben muß. Das hat nicht einmal etwas mit Feigheit zu tun, sondern mit Weitsicht.«
Ich fragte Grace. »Was meinst du?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Natürlich bleibe ich auch«, sagte sie.
Madge hob die Schultern. »Wie gesagt, Freunde, es ist eure Entscheidung. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Aber ich freue mich trotzdem, daß ihr mich begleiten wollt.«
»Dann kommt«, sagte ich und drehte mich um. Das Monstrum war nicht mehr zu sehen. Es hatte mittlerweile die Kirche erreicht und es auch geschafft, sich durch die Tür der Sakristei zu drücken.
Wir machten uns auf den Weg, von dem niemand von uns wußte, wo er enden würde…
***
Das Monstrum hatte mit seiner Beute die Kirche betreten. Es war durch die kleine Sakristei gegangen und hatte dort die im Weg stehenden Gegenstände und Möbel einfach umgeworfen. Sie lagen als Hindernisse verteilt auf dem Boden.
In der Kirche blieb es stehen. Die Dunkelheit schützte dieses Untier. Auf seinem Rücken bewegten sich die Flügel. Das veränderte, aber dennoch irgendwie menschlich wirkende Gesicht zitterte leicht. Es schnupperte, es suchte nach irgendwelchen Feinden, die sich im Gotteshaus hätten versteckt halten können.
Es waren keine zu sehen.
Nur das Licht!
Vier Kerzenflammen beleuchteten den Blutaltar, als wäre das Feuer nur für ihn angezündet worden. Um ihn zu sehen, mußte er den Kopf nach links drehen. Zwei schorfige und trotzdem nasse Lippen verzogen sich innerhalb des Gesichts zu einem bösen Grinsen.
Er war zufrieden. Die Kirche gehörte jetzt ihm, wie sie früher einmal eine Heimat für Don Carmacho, den Pfarrer, gewesen war. Das war er auch, und doch gab es so gravierende Unterschiede zwischen den beiden. Auf dem Blutaltar würden sie deutlich hervortreten, denn er sollte mit seiner Beute gedeckt werden.
Feinde spürte er nicht in der Nähe. Aber sie waren da. Draußen, nicht in der Kirche. Er hatte sie längst gewittert. Er wollte sich später um sie kümmern.
Die Najade lag auch weiterhin bewegungslos auf seinen Armen.
Für ihre sprichwörtlich jungfräuliche Schönheit hatte er keinen Blick.
Er bewegte sich sehr leise. Es war kaum zu hören, wenn er mit seinen breiten, nackten Füßen auftrat. Vom Körper rannen die letzten Wassertropfen und ließen auf dem Boden eine feuchte Spur zurück.
Auf einigen Teilen seines Körpers war das Wasser bereits gefroren. Dort lag eine blasse Schicht aus Eis, die manchmal aussah wie festgeklebter Puderzucker.
Sein Weg führte ihn auf den Blutaltar zu. Das Gesicht, ebenfalls von dieser braunen Haut umgeben, war zu einem triumphierenden Grinsen verzogen. Der Altar und nur der Altar war wichtig. Er
Weitere Kostenlose Bücher