1061 - Die Macht der Rhein-Sirenen
Lichtkreis traf ein Ziel.
Im ersten Augenblick war ich überrascht, denn damit hätte ich nicht gerechnet. Dieses Ziel war ein kleiner, von Hildegard Klose errichteter Altar. Da waren die beiden dicken Kerzen an den Seiten.
Sie rahmten das wertvollste Stück in der Mitte – eine Figur – ein. Sie stand auf einer kleinen quadratischen Decke, und die Gestalt selbst hatte ihren Platz auf einem Sockel gefunden.
Ich war davon überzeugt, daß die Figur etwas zu bedeuten hatte, und ging langsam näher. Harry wühlte noch immer in den Kisten herum. Er fand nichts, und seine Kommentare hörten sich ziemlich ärgerlich an.
Ich trat an den Altar heran.
Aus der Nähe stellte ich fest, daß diese Figur eine Frau war. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Madonna. Nur glaubte ich daran nicht. Hildegarda mochte zwar an die Madonna geglaubt haben, aber die wichtigeste Person war Hildegard von Bingen für sie gewesen. So lag es auf der Hand, daß die Figur hier eben diese mittelalterliche Mystikerin darstelle.
Der Künstler hatte sich damals viel Mühe gegeben. Ich war kein Fachmann und konnte das Alter der Figur deshalb schlecht schätzen, dennoch hatte sie meiner Ansicht nach einige Jahrhunderte auf dem Buckel. Der Körper wurde von einem Gewand verhüllt, das mehrfach gefaltet war. Nur das Gesicht lag frei, der übrige Kopf verschwand unter einer Kapuze. So hatte sich auch Hildegard Klose gezeigt. Sie mußte ihre Kleidung nach dieser Figur gekauft haben.
Mit der Lampe leuchtete ich vom Sockel hoch. Mich interessierte auch das Gesicht, doch zuvor gerieten die Hände und die Arme in mein Blickfeld. Sie waren angewinkelt, und auf den Händen lag ein rechteckiger Gegenstand, der mich an ein Buch erinnerte. Einen Stift oder eine Feder hielt die Person nicht in der Hand, und doch mußte dieses Buch etwa zu bedeuten haben.
Ich leuchtete noch höher. Ein weiches Gesicht. Fließende Formen, das alles auf einer kleinen Fläche gut zu erkennen. Da mußte ein Meister seines Fachs am Werk gewesen sein.
Der Lichtkreis wanderte noch höher, denn oberhalb des Kopfes und mit ihm verbunden, war noch etwas zu sehen. Zuerst dachte ich an eine dieser Hauben, die früher getragen worden waren. Das stimmte nicht, denn oberhalb des Kopfes malte sich etwas anderes ab. Es war erstarrt, es drängte sich hoch. Es war nicht gerade, sondern leicht flackernd erstarrt.
Feuer!
Genau das war es. Der Künstler hatte über dem Kopf der Frau die stilisierten Flammen hinterlassen und dies auch farblich gekennzeichnet, denn sie hoben sich rötlich im Vergleich zu dem dunkel gestalteten Körper ab.
Flammen also.
Warum?
Ich dachte nach. Über dem Kopf das stilisierte Feuer. Auf den Händen liegend das Buch. Beides mußte ich in einen Zusammenhang bringen, da ich davon überzeugt war, daß die Dinge auch miteinander zu tun hatten. Viel wußte ich nicht über Hildegard von Bingen. Mir war bekannt, daß sie zu den Mystikerinnen gehört hatte. Daß sie Visionen gehabt hatte, Eingebungen, und daß sie alles aufgeschrieben hatte, noch während dieser Veränderungen. Unter Schmerzen hatte sie gelitten, das war überliefert worden. Mir kam diese Figur ebenfalls wie ein Überlieferung vor, die dem Betrachter etwas sagen wollte.
Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Ich war überzeugt, die Lösung gefunden zu haben.
Es lag auf der Hand. Dieser Erschaffer der Figur hatte gezeigt, wie die Hildegard von Bingen sich gefühlt haben mußte, als sie die Visionen gehabt hatte.
Das Feuer vom Himmel war die Vision gewesen. Anders hatte der Erschaffer es nicht darstellen können. Und noch während Hildegard vom Feuer berührt wurde, hatte sie ihre Eingebungen bereits niedergeschrieben. Genau das mußte die Figur anzeigen.
Für mich war es interessant. Nur war ich nicht hergekommen, um dieses kleine Kunstwerk zu bewundern. Ich wollte herausfinden, warum die Figur für Hildegard Klose so wichtig war, daß sie ihr hier sogar einen kleinen Altar errichtet hatte.
Ja, sie mußte etwas Besonderes sein. Nicht nur einfach ein Stück Vergangenheit, und deshalb wollte ich versuchen herauszufinden, ob auch ich damit zurechtkam.
Ich faßte sie an. Sie war vom Umfang her klein genug, um die Hand um sie schließen zu können. Es war kein harter Griff. Ich wollte auch herausfinden, aus welchem Material sie bestand. Stein war es nicht, sondern Holz.
Es fühlte sich glatt an. Ich entdeckte keine rauhe Stelle, und es war auch nicht kalt.
Ich wollte allerdings nicht glauben,
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