1061 - Die Macht der Rhein-Sirenen
daß sich das Material von den Strahlen der Sonne erwärmt hatte, die zudem nicht direkt auf die Figur trafen. Die Wärme war einfach in ihr vorhanden. Sie kam von innen, und sie erfaßte allmählich auch meine rechte Hand.
Lebte das plastische Abbild der Hildegard von Bingen?
Ein verrückter Gedanke – normalerweise. Nicht bei mir. Ich hatte schon zuviel erlebt, auch mit lebenden Bildern oder Figuren. Ich konzentrierte mich auf ihr Gesicht, auch deshalb, um vielleicht dort eine Bewegung erkennen zu können. Wärme bedeutete Leben, Kälte den Tod. Aber der Gefallen wurde mir nicht getan.
Ich stellte sie wieder auf den Tisch.
Harry Stahl kam zu mir. »Na, hast du was gefunden? Also ich nicht. Da war nur Gerumpel.«
»Hier, die Figur.«
Er schaute sie an. »Na und? Was ist damit? Soll sie Hildegard von Bingen sein?«
»Ich denke schon. Und ich frage mich, warum sie hier zurückgelassen worden ist.«
»Das weiß ich auch nicht. Ein Andenken möglicherweise.«
»Nein, nein, das ist mir zu billig. Sie muß schon eine Funktion haben.«
»Was bedeutet denn die Haube da auf dem Kopf?«
Ich verzog die Lippen. »Das ist keine Haube.« Dann erklärte ich ihm die Bedeutung.
»So ist das.«
»Ja.«
»Was willst du tun? Sie doch nicht nur anschauen, John? Ich kenne dich. Ich weiß, wie du denkst. Für dich oder für uns muß die Figur eine Bedeutung haben.«
»Das hat sich auch«, erklärte ich. »Und ich werde es testen. Ich habe beim Anfassen eine ungewöhnliche Wärme gespürt, die von innen kam und nicht von mir stammte. So kann es durchaus sein, daß dieses Kleinod hier eine, sagen wir, Seele hat.«
Harry Stahl gab keinen Kommentar. Von der Seite schaute er mich schon etwas ungläubig an und hielt sich auch dann zurück, als ich die Kette über den Kopf streifte und mein Kreuz freilegte. Es war ebenfalls ein Kleinod und auch ein besonderes. Wie eben dieses vor mir stehende Fundstück.
Die kleine Lampe hatte ich weggesteckt. Ich brauchte sie nicht mehr. Das Licht war hell genug. Nur der säuerlich dumpfe Geruch unter dem Dach störte mich. Daran hatte ich mich einfach nicht gewöhnen können. Es war wieder ein Test, wie ich ihn schon des öfteren durchgeführt hatte. Zumeist waren es gegensätzliche Pole, die sich da berührten, und hier war ich gespannt.
Das Kreuz hielt ich in der rechten, die Figur in der linken Hand.
Beide näherten sich. Die Spannung wuchs auch bei mir, und ich wartete auf den entscheidenden Moment.
Es kam zum Treffen!
Ich zuckte zusammen, denn plötzlich sandte die Figur einen sehr warmen Stahl in meine Hand aus. Zugleich erschien das Licht, das uns im Moment blendete. Eine regelrechte Glocke umhüllte uns.
Harry Stahl taumelte aus dem Licht weg. Ich hörte ihn leise fluchen, während ich im Zentrum stehenblieb.
Ich hatte den Eindruck, mich plötzlich zwischen zwei Grenzen aufzuhalten. Vielleicht auch zwischen den Dimensionen, und das Gefühl war mir ebenfalls nicht unbekannt. Es stellte sich meist dann ein, wenn ich das Kreuz durch das Rufen der Formel aktiviert hatte.
Da war ich dann auch von einem derartig strahlenden Licht umgeben.
Ich schloß die Augen nicht und vertraute einfach auf mein Kreuz.
Das Licht blieb. Es war eine sehr helle Aura. Dichter hätten es vielleicht als eine Öffnung des Himmels beschrieben, um den göttlichen Kräften freie Bahn zu lassen.
Es war eine Macht da, und sie war erschienen, um sich zu offenbaren. Ich konnte sehen und sah .
Innerhalb des Lichtscheins malten sich Frauenkörper ab. Acht von ihnen bildeten einen Halbkreis, die über mir schwebten wie nach vorn gebeugte Engel.
Und vor ihnen stand die Person, um die sich alles drehte. Nicht die echte Hildegard von Bingen, sondern Hildegard Klose, alias Hildegarda…
***
Es hätte für mich der Moment der Erkenntnis sein müssen, aber er war es nicht. Die acht Frauengestalten um Hildegarda herum taten nichts. Sie griffen mich nicht an. Sie nahmen keinen Kontakt auf, sie schauten nur auf mich herab. Es sah aus wie ein in die Luft gemaltes Heiligenbild, wobei die Kraft meines Kreuzes so etwas wie eine Leinwand bildete.
Sehr deutlich sah ich das Gesicht der Hildegarda. Sie schaute mich an, ohne daß ich erkannte, was ihr Blick beinhaltete. War er böse, negativ, war er mir zugetan?
Sie hatte bisher noch keinen direkten Kontakt mit mir aufgenommen und sich nur zwangsläufig gezeigt, weil ich durch mein Kreuz das Tor zu ihrer Welt aufgestoßen hatte. Doch in ihrem Gesicht zeigte sich Bewegung,
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