1063 - Die Nacht vor Walpurgis
sich etwas. Plötzlich spürte sie das Kribbeln, das einfach unnormal war. Sie selbst hatte es nicht produziert, da steckte schon eine andere Kraft dahinter, und sie wußte auch, wer das war. Jane war nicht ängstlich, sondern neugierig. Deshalb ließ sie den Kontakt mit dem Spiegel auch bestehen und zog ihre Hand nicht zurück. Sie wollte die andere Kraft locken, sie vielleicht sogar stark machen, um über sie an die Lösung des Problems heranzukommen.
Ein recht gutes Gefühl durchströmte sie. Nichts Fremdes, keine Angst. So konnte oder mußte sich jemand fühlen, der von einer langen Reise wieder zurück nach Hause gekehrt war.
Die Fläche war nicht glatt, aber auch nicht unbedingt rauh. Nur leicht aufgerauht. Sie merkte, daß der Kontakt in den letzten Sekunden intensiver geworden war. Es gab Gemeinsamkeiten zwischen ihr und der Gestalt im Spiegel. Für Jane war sie so etwas wie ein Geist. Sie lebte nicht, aber sie existierte, und das eben auf ihre Art und Weise.
Jane hörte ihre Stimme und wunderte sich über die Begrüßung, die ihr zuteil wurde. »Willkommen, Schwester, herzlich willkommen…«
Die Detektivin schloß für einen Moment die Augen. Sie wollte sich nicht mehr ablenken lassen. Sie mußte herausfinden, ob sie sich die Stimme nur eingebildet hatte, oder ob es sie tatsächlich gab.
»Wer bist du?« flüsterte Jane.
Die gewisperte Antwort erreichte sie aus dem Spiegel. Es war auch normal hörbar und nicht nur in ihren Gedanken. »Ich bin Zora, die man vor so langer Zeit verbrannt hat. Die aber überleben konnte, weil mein Herz nicht zerstört wurde.«
»Was ist damit?«
»Es schlägt noch.«
»Wo?«
»Nicht hier in meiner Welt, sondern in deiner. Aber ich werde es zurückbekommen, denn auch ich kehre zurück. In der übernächsten Nacht werden viele meiner Schwestern hierher kommen, um die Walpurgisnacht zu feiern. Da werde ich dann zu einer echten Größe heranwachsen, da wirst du meine wahre Macht erleben, und du wirst eine von denen sein, die ich in meinen Reigen aufnehme.«
»Nein, das ist…«
»Doch, Schwester, doch. Du bist eine Schwester. Ich spüre es. In dir steckt etwas von uns, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Du bist auch nicht grundlos hergekommen, denn tatsächlich hat das Schicksal dir den Weg bereitet. Man kann ihm nicht entrinnen. Du hast den Weg zu mir gesucht und ihn auch gefunden…« Sie lachte leise, und zugleich passierte etwas Unheimliches.
Jane wußte nicht, ob sich die Spiegelfläche veränderte oder ob es Zora war, die sich einfach nur nach vorn geschoben hatte, um besser gesehen werden zu können. Jedenfalls nahm Jane Collins die andere Person jetzt deutlicher wahr.
Eine Frau mit langen dunklen Haaren schälte sich hervor. Noch ein wenig undeutlich, wobei die farbigen Kontraste der Kleidung schon zu erkennen waren.
Zora trug so etwas wie einen schwarzen Badeanzug, der zwischen den beiden Brustkörben und dem Bauchnabel waagerechte, übereinander liegende Lücken zeigte. Um die Schulter hatte sie einen roten Umhang gehängt, der allerdings verrutscht war.
Dafür hatte Jane kaum einen Blick. Sie interessierte sich nur für die Waffe der Hexe. Es war ein schmales Schwert, schon mehr ein Säbel mit Handschutz, den sie in ihrer Rechten hielt. Die Waffe zielte nicht auf Jane, sie zeigte zu Boden, und Zora streckte jetzt die freie Hand vor.
Jane Collins konzentrierte sich auf diese Bewegung. Sie kam nicht auf den Gedanken, die Waffe zu ziehen und auf die Gestalt zu feuern. Irgendwo hatte Zora sie an einer empfindlichen Stelle getroffen. Es stimmte ja, in Jane Collins befanden sich einfach noch die Reste der alten Kräfte, die sie damals in Bann gehalten hatten.
Immer wieder hatte sie erleben müssen, daß andere davon erfuhren und sie deshalb auch immer wieder darauf hinwiesen.
Die Hand glitt vor. Dabei befand sie sich noch innerhalb des Spiegels, und Jane rechnete damit, daß dies nicht so blieb. Es war nicht nur einfach ein Zeichen, diese Hand wollte mehr. Sie war der Kontakt zwischen den Welten.
Jane zögerte noch. Die schlanke Frauenhand mit der hellen Haut bewegte die Finger. Es war ein Signal, dem sich Jane Collins einfach nicht widersetzen konnte.
Deshalb griff sie zu.
Dazu mußte sie ihre Hand in den Spiegel hineindrücken. Was ihr beim erstenmal nicht gelungen war, das passierte jetzt. Der Spiegel »öffnete« sich. Er gab tatsächlich den Weg in die andere Welt frei, die in oder hinter ihm lag.
Janes Handfläche war durch Schweiß feucht
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