1066 - Avalons Riesen
Nadine. »Stimmt, ich höre es auch. Wie Wasser.«
»Nur ist es Blut«, sagte ich.
»Sie haben nicht immer gesprudelt?«
»Nein.«
»Dann muß es einen Grund geben.«
Über ihn sprachen wir nicht. Jeder von uns allerdings wußte, was gemeint war.
Das Gebiet war uns bekannt. Wir mußten uns nach rechts wenden und quer zum Ort hin gehen. Die Umgebung war nicht mehr so kahl. Die ersten Büsche wuchsen aus dem Boden, und der Geruch von Wacholder erreichte unsere Nasen.
Das alte Keltentor blieb hinter uns zurück. Glastonburys Umgebung nahm uns gefangen. Ich dachte daran, daß Glastonbury von manchen Menschen auch der Zugang zum Unsichtbaren genannt wurde. Man war nie allein in diesem Marschland. Avalon und seine Hüter schienen stets bei uns zu sein, als unsichtbare Begleiter.
Das Sprudeln nahm an Lautstärke zu. Die Wacholdersträucher standen jetzt dichter. Wieder sahen sie so ungewöhnlich aus. Märchenhaft, verschwommen. Nicht wie normale Sträucher. Sie bildeten Figuren, zumindest sah ich dies in meiner Phantasie so. Auf diesem Boden wurde die Phantasie angeregt, da vermischten sich sehr leicht Schein und Wirklichkeit miteinander.
Ich sah die erste Quelle. Eine dunkle Fontäne schoß aus dem Boden, fiel zusammen, landete wieder auf der Erde und fand von dort ihren Weg zu den anderen Rinnsalen hin, mit dem sie sich vereinigte. An verschiedenen Stellen hatte sich der Boden geöffnet, um seinen Inhalt zu entlassen.
Es war Blut, aber ein anderes Blut als das eines Menschen. Viel dunkler. Auch anders riechend. Nach Erde und nach starker Verwesung.
Wir blieben stehen und schauten den Fontänen zu. Der Untergrund um uns herum war feucht geworden. Eine dunkle Feuchtigkeit, die sich bewegte, die lief, auf der sich Schatten abmalten, die ihren Weg über das Gras fand und schließlich irgendwo im Erdreich versickerte.
»Es hat eine Bedeutung«, sagte ich leise. »Aber welche?«
»Nahrung für die Riesen?« fragte Bill.
»Das glaube ich nicht. Wir haben den Unhold anders erlebt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, von wem das Blut stammt. Wäre es in Avalon passiert, dann hätte man es auf diese Welt schieben können. So aber…«
»Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Blutquellen und Avalon«, sagte Nadine leise. »Ich kenne ihn nicht. Ich spüre ihn nur. Diese Verbindung besteht.« Sie lachte leise auf. »Als wäre das Gebiet hier, und damit schließe ich Glastonbury mit ein, ein Stück Avalon. Ein Teil des Landes.«
»Eine gewagte Theorie.«
»Stimmt, John. Aber auch unmöglich?«
»Nein. Unmöglich ist nichts. Den Begriff haben wir zudem aus unserem Wortschatz gestrichen.«
»Ob die Riesen das Blut trinken?« Bill wollte einfach nicht von seiner Theorie ab. »Ich meine, wie Vampire. Daß sie daraus einen Teil ihrer Kraft schöpfen. Daß es Hintergründe gibt, an die wir bisher überhaupt nicht gedacht haben.« Er trat mit dem Fuß gegen den feuchten Boden, und es klatschte. »Das muß einen Grund haben. Blutquellen entstehen nicht einfach so.«
Er hatte recht. Wir alle hatten irgendwie recht. Doch keinem gelang es, den Faden zu finden. Ich allerdings tippte mehr auf Nadines Version. Es konnte sein, daß Avalon und Glastonbury tatsächlich einmal zusammengehört hatten und dann abgetrennt worden waren. Hier war der Einfluß der Nebelinsel mit all ihrem Zauber zu spüren. Nicht grundlos pilgerten zahlreiche Menschen in den Sommermonaten hierher. Wenn sie Avalon schon nicht sahen, trugen sie das Land der Träume möglicherweise in ihrem Herzen und suchten hier in Glastonbury nach der Verbindung. Historie, Glaube und Mystik vereinigten sich hier zu einer ganz besonderen Dichte.
Ich hatte das Kreuz auf meine Handfläche gelegt. Eine leichte Erwärmung war zu spüren. Was aus dem Boden sprudelte, war kein gutes Blut. Es steckte ein negativer Keim in ihm und in all seinen schmalen Rinnsalen, die sich netzartig auf dem Boden verteilten.
»Die Riesen waren jedenfalls nicht hier«, erklärte Bill, »sonst hätten wir längst ihre Spuren gesehen. Tiefe Abdrücke im Boden. Fliegen können sie ja wohl nicht.«
Nadine Berger hatte eine andere Frage. »Wie lang ist die Nacht noch?«
»Vier, fünf Stunden…«
Sie blickte mich besorgt an. »Noch viel Zeit für sie.«
»Denkst du denn, daß sie bei Einbruch der Helligkeit wieder nach Avalon zurückkehren?«
»Es wäre nicht auszuschließen. Aber ich möchte sie nicht mehr haben. Sie verbreiten Angst. Sie sind ein Relikt aus Atlantis. Sie gehören nicht auf die
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