107 - Turm der Menschenmonster
zur Decke. In diesen Augen war der Glanz des
Lebens, und doch lag die Operierte wie eine Tote im Bett. Sie atmete nicht,
kein Herz schlug mehr in ihrer Brust.
Und in einem weiteren Zimmer brannte seit
Stunden das Licht. Wenn Anne Fedderson ihren vorgeschriebenen Kontrollgang
durch die Station unternahm, sah sie den dünnen Lichtstreifen unter der Tür zum
Zimmer Dr. Shillings. Der Chirurg war noch immer im Haus?
Das verwunderte sie. Spätestens um zehn Uhr
hätte er gehen sollen. Ein junger Assistenzarzt hatte Bereitschaftsdienst.
Es war eine Viertelstunde nach Mitternacht,
als Anne Fedderson erneut an Dr. Shillings Tür vorüberkam. Das Licht brannte
noch immer.
War der Arzt bei einer Arbeit eingeschlafen?
Gewundert hätte sie das nicht. In den letzten beiden Tagen war von Ärzten und
Pflegepersonal ein Übermaß an Leistung gefordert worden. Da war es leicht
möglich, daß einer abbaute.
Vorsichtig klopfte sie an. „Doktor?“ rief sie
leise.
Im Zimmer hinter der Tür rührte sich nichts.
„Doktor?“
Rasch blickte Anne Fedderson sich um und tat
dann etwas, was sie eigentlich nicht hätte tun dürfen. Sie warf einen Blick
durchs Schlüsselloch. Der Platz vor dem Schreibtisch war leer.
Dann war Shillings
bereits gegangen und hatte nur vergessen, das Licht zu löschen.
Sie drückte die Klinke. Doch die Tür war
verschlossen.
Achselzuckend ging die Schwester weiter, ohne
zu ahnen, welche Bedeutung ihre Entdeckung noch haben sollte.
●
Der Wirt machte sich nicht mal die Mühe,
hinter der Theke vorzukommen und den neuen Gast nach seinen Wünschen zu fragen.
Der fette Mann beugte sich über die Theke und stützte sich mit der Rechten an
einem Zwischenbalken ab, der wie eine massige Säule die Theke auf der einen
Seite flankierte.
„Was darf es sein. Miß?“ wurde sie gefragt.
Morna gefiel dieser Mann nicht. Er hatte eine
ungesunde, wächserne Gesichtsfarbe und kalte Augen, und kalt klang auch seine
Stimme. Vollkommen ohne jedes Gefühl.
„Whisky? Sherry? Einen süßen Port?“
„Nichts Alkoholisches, bitte. Wenn ich eine
Limonade haben könnte ...“
„Eine Limonade, bitte schön.“ Der Wirt zuckte
die Achseln. Morna ließ ihn nicht aus den Augen, als er aus einem Fach unter
der Theke einen verschlossenen Tonkrug nahm und einen Becher mit einer
gelblichen Flüssigkeit füllte.
Es fiel ihr auf, daß es keine modernen
Flaschen hier gab, keine Gläser und Krüge. Es war alles sehr alt und primitv.
Die Regale vor dem stumpfen Spiegel hinter
der Theke waren staubig, und in ihren Ecken hingen Spinnengewebe.
Die Luft hier drin roch nach Moder, feuchtem
Holz und Rauch.
Die Atmosphäre seltsam gespenstisch. Das
Knistern der Scheite, das Flackern der Flammen im Kamin, der unheimliche Wirt
und die trüben Öllichter, die in den Ecken an den Wänden verteilt waren. Hier
gab es nicht mal elektrischen Strom.
Morna blickte ihr Gegenüber an. „Ich hatte
Dr. Shillings erwartet - nicht Sie. Wo ist Dr. Shillings?“
„Er läßt sich entschuldigen. Er hat mich
gebeten, ihn zu vertreten. Henry war der Meinung, daß ich Ihnen ebenso gut
sagen könne, worum es geht... vielleicht noch besser.“
Sein Lächeln gefiel ihr nicht. Es war kalt
und unpersönlich.
„Wäre es nicht möglich gewesen, mir in
Glasgow das mitzuteilen, was man mir mitzuteilen gedenkt? Der Weg in die Bar
des Excelsior wäre kürzer und bequemer gewesen als die lange Fahrt durch Nacht
und Nebel.“
„Hm, schon möglich. Aber in der Bar des
Excelsior hätten Sie unmöglich das erfahren - und erleben können, was Sie hier
erfahren und erleben werden, Miß Ulbrandson!“
Morna hatte ein Gehör für Feinheiten. Die
leise Drohung, die in Hampers Worten mitschwang, war für sie nicht zu
überhören.
Der Wirt schlurfte um die Schwedin herum und
stellte den Becher vor ihr auf den Tisch. Als der Mann für diesen Moment in
ihrer unmittelbaren Nähe weilte, spürte sie die Kälte, die von ihm ausging.
Die Kälte des Grabes, mußte sie unwillkürlich denken . ..
Die PSA-Agentin blickte ihm nach, als er mit
watschelnden Bewegungen wieder der Theke zustrebte und monoton dickwandige,
altmodische Gläser wischte, mit einem Tuch, das dringend in die Wäsche gehörte.
Nur einen Schritt vor der Theke entfernt
befand sich eine niedrige, abgerundete Tür, die spaltbreit geöffnet war: Der
Eingang zum Weinkeller. Wer dort hinunterging, mußte den Kopf einziehen, weil
die Tür extrem nieder war. Gleich hinter einer vorspringenden Wand befand
Weitere Kostenlose Bücher