1086 - Der Vampir und der Engel
daß sie wieder auf die Beine kam. Damit kehrte auch ein gewisser Teil ihrer Sicherheit zurück. Sie war jetzt in der Lage, sich zu drehen und in den Spiegel zu schauen, ohne daß es ihr etwas ausmachte.
Am Waschbecken stützte sie sich ab und schob sich langsam immer höher, bis sie ihr Gesicht sah.
Ja, das Gesicht!
Normal - oder?
Um den Vampir kümmerte sie sich nicht. Auch nicht darum, daß sie ihn eigentlich im Spiegel hätte sehen müssen, aber Vampire geben kein Spiegelbild ab. Genau das war auch bei Ezra York der Fall.
Das Gesicht im Spiegel - ihr Gesicht!
Es war da und doch weg.
So weich, so zerfließend. Erst jetzt konzentrierte sich Estelle auf dieses Wunder. Sie bekam auch mit, wie sie lächelte, aber auch dieses Lächeln wurde von der Fläche irgendwie aufgesaugt, als wollte es ganz hinten in den Spiegel eintauchen.
Es konnte schon der Eindruck entstehen, daß genau sie es war, der diesem Spiegel so etwas wie Leben gab, denn er blieb irgendwie nicht ruhig. War er wirklich wolkig geworden, und wenn ja, welche Kräfte sorgten für diese Veränderung?
Estelle hob die Arme. An ihrem rechten Mundwinkel sah sie einen Blutstreifen. Sie wischte ihn mit einer kurzen Bewegung weg.
Dann drehte sie sich um.
Der Vampir starrte sie an.
Den kalten Ausdruck der Augen kannte sie zur Genüge. Sie hätte auch erwartet, ihn wieder so kalt zu sehen, aber die Verunsicherung war bei ihm noch nicht verschwunden.
Er schaute sie irgendwie fassungslos an.
»Wer bist du?« hauchte er.
»Estelle Crighton…«
»Ja, ich weiß. Aber du bist mehr. Du bist mehr als dieser Name. Ich habe dich gebissen, weil ich dein Blut aussaugen wollte. Ich habe gespürt, wie deine Haut nachgab, aber ich konnte dein Blut nicht trinken. Nein, ich konnte es nicht. Etwas hat sich dagegen gesträubt. Es war nicht möglich…«
Die Worte hatten Estelle verunsichert. Sie kam mit sich selbst nicht zurecht. Alles war in den letzten Minuten so völlig anders geworden, und über diese Grenze mußte sie erst einmal hinwegspringen.
Diesmal spürte sie ihr Blut. Es schien zu kochen, ihr war warm geworden, und noch immer klebte der skeptische Blick des Blutsaugers auf ihr. Auch Estelle sagte nichts. Sie hob nur die linke Hand und führte sie in die Halsgegend. Sie tastete dort nach, wo sich die kleinen Bißwunden befinden mußten.
Ja, sie waren zu fühlen. Kleine Mulden, die sich an den Rändern ein wenig aufgerollt hatten.
Nicht mehr…
Estelle drehte sich nach rechts. Sie hatte an Sicherheit gewonnen. Sie bezweifelte, daß dieser Ezra York sie auf eine andere Art und Weise töten wollte. Er mußte über seinen verdammten Schock zunächst einmal hinwegkommen.
Vor ihr zeichnete sich der Umriß der Tür ab und damit auch der Drehverschluß des Schlosses. Es war leicht, ihn zu bewegen, und der Blutsauger schaute zu.
Er tat auch nichts, als sie die Tür aufzog und nach draußen in den Gang ging.
Mittlerweile hatte der Zug den Bahnhof wieder verlassen und rollte durch die Nacht.
Bevor Estelle die Toilettentür hinter sich schloß, warf sie einen Blick zurück.
Der Blutsauger hatte sich noch nicht bewegt. Nach wie vor stand er an der gleichen Stelle. Sein Blick war starr auf sie gerichtet, und in den Augen schimmerte Ungläubigkeit.
Estelle verschluckte die lockere Bemerkung, mit der sie sich verabschieden wollte. Sie zerrte die Tür zu, ging zwei Schritte und mußte sich festhalten, weil ihre Beine nachgaben. Was sie hinter sich hatte, war unerklärlich…
***
Mensch gegen Vampir!
So sah Bill Conolly seine Lage. Er machte sich nichts vor, denn er wußte, wie gefährlich der Blutsauger war und wie schwach er aussehen würde. Der Kampf war nicht zu gewinnen. Dieser Wiedergänger war mit gewaltigen Kräften ausgerüstet. Bill brauchte nur daran zu denken, wie er unter der Decke geschwebt hatte. Das war schon phänomenal gewesen und nur mit den finsteren Mächten zu erklären, die hinter ihm standen und ihm den entsprechenden Schutz gaben.
Bill war realistisch genug, um einzusehen, daß er auf verlorenem Posten stand. Wäre er nicht so angeschlagen gewesen, hätte er vielleicht noch etwas reißen können. Aber er war ausgeschaltet, er hatte auf dem Boden gelegen, und in dieser Zeit war es Ezra York gelungen, sich das zu holen, was er brauchte.
Bills Lippen verzogen sich zu einem säuerlichen Grinsen, als er sah, daß auf dem Sitz noch die Handtasche der jungen Frau lag. Sie war ein Rest, eine Erinnerung und nicht mehr. Und Bill wußte auch,
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