1094 - Der Aibon-Drache
Sie wirkte wie Milchglas, und es gab so etwas wie einen Punkt in der Mitte.
Mit der Spitze des Zeigefingers fuhr ich darüber hinweg. Es fühlte sich an wie Zucker, denn das Glas war an der Innenseite bereits gekrümelt. Da hätte ein leichter Druck nur ausgereicht, um die Scheibe völlig zerstören zu können.
»Du hast nicht gesehen, wie es wieder verschwunden ist – oder?« rief ich fragend zu Chris hinüber.
»Nein, das habe ich nicht. Ich bin dann weggerannt, und ich mußte einfach schreien.«
»Das war gut so. Es kann sein, daß der Schrei ihn verscheucht hat.«
»Wie ist er überhaupt rausgekommen?«
»Unten stand ein Fenster offen.«
»Wo?«
»In deiner Bibliothek.«
»Was?« Chris konnte sogar lachen. »Was denn für eine Bibliothek?«
»Der Raum, in dem die Bücher stehen.«
»Ach so. Na ja, das ist ein Erbe meiner Tante. Ich mußte es übernehmen. Es war ihr Bedingung.«
Mit der Erklärung gab ich mich nicht zufrieden. »Und was ist weiter passiert?«
»Wie meinst du das?«
»Bedingung hin, Bedingung her. Wie hast du dich mit dem Erbe abgefunden? Hast du schon mal in die Bücher hineingeschaut?«
»Nie.«
Ich drehte mich um. »Warum nicht?«
Chris hielt das leere Weinglas noch in der Hand. Sie zuckte die Achseln. »Weil es mich nicht interessierte, ehrlich gesagt. Diese Bücher sind doch alter Plunder.«
»Im Prinzip schon, doch ich habe mir die Zeit genommen und in zwei hineingeschaut.«
»Deshalb warst du so lange weg gewesen.«
»Stimmt auch. Es war sogar gut, daß ich es getan habe.«
»Wieso das denn?«
»Deine Tante hat einiges an Literatur über Drachen gesammelt. Da kannst du staunen oder nicht. Meinetwegen auch den Kopf schütteln. Aber es stimmt. Ich frage mich jetzt, aus welchem Grund sie das getan hat. Du kennst sie besser oder hast sie besser gekannt…«
»Nein, gar nicht!« widersprach Chris heftig.
»Wieso?«
»Weil ich nicht in London wohne. Ich habe Tante Edina zuletzt als Kind gesehen.«
»Du warst nicht bei der Beerdigung?«
Chris schüttelte heftig den Kopf. »Wie konnte ich? Als ich erfuhr, was ich geerbt habe, war sie längst tot und begraben. Sie ist Wochen zuvor gestorben.«
»Das ist allerdings ein Klopfer.«
»Meinst du?«
»Ja, denn ich versuche, ein Motiv zu finden. Nichts geschieht auf dieser Welt ohne Grund, Chris. Es gibt immer wieder Motive, auch wenn die Dinge noch so absurd erscheinen. Auch hier muß es ein Motiv geben, auch wenn es noch so absurd erscheint.«
»Und wo willst du das suchen?«
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht unter im Erbe deiner Tante. Sie muß etwas Besonderes gewesen sein. Weißt du nichts Näheres über sie? Haben deine Eltern nichts über sie erzählt?«
»Nein. Oder schon. Tante Edina galt schon immer als sehr schrullig, das stand fest. Sie war zwar nicht ausgestoßen worden, aber unsere Familie wollte nichts mit ihr zu tun haben. Mir kam sie zudem immer alt vor.«
»Deinen Eltern hat sie nichts hinterlassen?«
»Nein. Sie hatten auch keinen Kontakt zu ihr. Tante Edina war eben sonderbar. Als ich dann die Summe der Erbschaft erfuhr, bin ich fast in den Boden gesunken. Ich konnte mir endlich meinen Traum erfüllen. Da habe ich die Bücher gern mitgenommen.«
»Ansonsten kannst du dich nicht erinnern, was deine Tante früher alles so getan hat, wenn ihr beide zusammengewesen seid?«
»Nein, das kann ich nicht, John. Das heißt, sie hat den Kindern immer wieder Geschichten erzählt.«
»Hört sich gut an.«
»Ach, das waren auch keine normalen Kindergeschichten. Sie sprach mehr von Fabeln, von Wesen, die irgendwo einmal gelebt haben. Sie hatte ein Faible für Märchen.«
»Hat sie auch über Drachen gesprochen?«
»Ja, hat sie.«
»Wenn sie vorlas.«
»Ja.«
»Und wie hast du reagiert?«
»Ich hatte irgendwie Angst. Ich war ein Kind, und sie redete über feuerspeiende Monstren, die auch durch die Luft segeln konnten. Jetzt, wo du mich darauf angesprochen hast, fallen mir all die Dinge wieder ein, John. Aber ich weiß nicht, wie ich das Auftauchen dieses Drachens mit meiner Tante in Verbindung bringen soll. Für mich sind das noch zwei verschiedene Dinge.«
»Kann sein, muß aber nicht sein. Vielleicht gibt es noch eine Verbindung zwischen den beiden.«
Sie lachte mir laut ins Gesicht. »Bitte, John, jetzt geht deine Phantasie mit dir durch.«
»Mag sein. Doch auf der anderen Seite glaubst du gar nicht, wie phantastisch das Leben oft ist.«
»Das habe ich jetzt gemerkt.« Sie schloß für einen
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