1094 - Der Aibon-Drache
schlug das Buch auf und sah diesmal keine Bilder. Aber der Text beschäftigte sich mit alten Beschwörungs- und Zauberformeln, die jemand im Laufe der Zeit gesammelt und niedergeschrieben hatte.
Die Beschwörungen waren uralt. Das merkte ich daran, wie sie geschrieben und formuliert worden waren. In dieser Diktion unterhielt sich heutzutage niemand mehr.
Manche Beschwörungen waren auch in Reimform geschrieben worden. Ich machte mir die Mühe und las. Dabei überraschte mich, daß das Buch doch ein Bild enthielt.
Es zeigte eine Frau, die auf einem Felsen saß, den rechten Arm ausgestreckt hielt und damit auf ein senkrecht gemaltes Wellenmuster wies und es sogar berührte. An der Stelle, an der sie das Muster traf, war es zurückgewichen und gab dem Betrachter den Blick in eine andere Welt frei.
Dort sah ich einen Drachen!
Er schwebte in der Luft, hatte die Flügel ausgebreitet, und der Text auf der anderen Seite des Bildes las sich tatsächlich wie eine Beschwörungsformel.
Hier wurde beschrieben, wie man die Drachen von einer Welt in die andere lockte, und der Verfasser hatte auch ein nicht sichtbares Reich erwähnt.
Mehr fand ich nicht heraus. Das Ganze war für mich noch immer ein Rätsel. Ich blieb bei meinen Gedanken an den Begriffen Atlantis und Aibon hängen. So hätten die Welten auch von diesem Verfasser umschrieben werden können.
Ob das alles stimmte, war mir unklar, aber ich wollte es nicht vergessen. Zudem gehörte Chris diese Bibliothek, und ich würde sie darauf ansprechen. Es wunderte mich nur, daß sie mir nichts davon erzählt hatte, als der kleine Drache aufgetaucht war. Es wäre normal gewesen, da eine Verbindung zu ziehen.
Als ich das Buch wieder weggestellt hatte, blickte ich auf die Uhr.
Himmel, ich hatte einige Zeit hier verbracht. Vielleicht schon zu lange, und da mußte sich etwas ändern.
Von Chris Talbot hatte ich leider nichts gehört. Vielleicht auch zum Glück, und der verdammte Drache war auch nicht wieder aufgetaucht. Daß er sich endgültig zurückgezogen hatte, bezweifelte ich. Nein, der nicht. Der würde seinen Plan so leicht nicht aufgeben und ihn bis zum bitteren Ende durchfechten.
Ich wollte den Raum verlassen, war schon an der Tür, als ich den Schrei hörte. Schrill und sirenenhaft hallte er durch das Haus und ließ mir im wahrsten Sinne des Wortes die Haare zu Berge stehen.
An den Drachen dachte ich nicht, dafür an eine andere Person, die den Schrei ausgestoßen hatte.
Mit gewaltigen Sätzen jagte ich die Stufen der Treppe hoch, und der tanzende Lampenschein begleitete meinen Weg. Es war nicht bei dem einen Schrei geblieben, doch die nächsten Schreie waren nicht mehr so laut, und ich hörte auch die anderen Schritte.
Das Ende der Treppe hatte ich noch nicht erreicht, als mir Chris Talbot bereits entgegenkam. Sie ging nicht normal, sie taumelte, und ich leuchtete ihr Gesicht an. Ich sah darin das Entsetzen gepaart mit der Angst.
Dann hetzte ich mit einem letzten Sprung die restlichen beiden Stufen hoch. Es war gut, daß ich sie vorher erreichte, denn Chris hatte in ihrer Angst nicht darauf geachtet, wohin sie trat. Sie hätte auch die Treppe nicht gesehen, und so konnte ich sie gerade noch im letzten Augenblick abfangen.
Sie fiel mir in die Arme, erstarrte für einen Moment. Ich sah die Panik in den Augen und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf sie ein.
»John… John …«, flüsterte sie und begann sich zu beruhigen. Sie schrie oder jammerte nicht mehr, sondern holte nur keuchend Luft, wobei sie eine Hand dorthin gepreßt hatte, wo das Herz schlug.
Ich schob sie von der Treppe weg und stellte sie dorthin, wo ihr die Wand im Rücken Halt gab.
»Bitte, Chris, beruhige dich. Es ist zunächst vorbei. Okay?«
»Ja, ja«, sagte sie.
Ich schaute nach rechts und links in den Flur hinein. Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Deshalb nahm ich die Lampe und leuchtete noch einmal den Boden ab.
Da war nichts zu sehen. Kein Verfolger. Kein Drache, der über den Boden huschte.
»Ich habe ihn gesehen, John.«
»Wo?«
»Bei mir in der Nähe.«
»Im Zimmer?«
»Nein, am Fenster.«
»Also doch im Zimmer?«
Sie holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, John. Er… er war außen an der Scheibe. Da ist er entlanggekrochen. Wirklich, von außen.« Sie schloß für einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf. »Das … das … kann ich selbst nicht fassen, aber du mußt mir glauben. Ich bilde mir das nicht ein. Ich habe ihn
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