1097 - Der Tod aus dem Tunnel
die Wand starrte. Die Steine gaben ihm keine Antwort. Sie lagen fest übereinander.
Sie klebten. Moos und Feuchtigkeit hatten die Zwischenräume hart wie Beton gemacht.
Was lag hinter der Wand?
Oleg Stachow wundert sich über diesen Gedanken. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal so zu denken. Alles war anders geworden in den letzten Minuten. Er war immer froh gewesen, selbst Entscheidungen treffen zu können, nun sah es anders aus. Da kam er sich vor wie jemand, der von einer anderen Macht bestimmt wurde.
Er drehte sich um.
Nein, es lauerte niemand hinter ihm. Der Stollen war leer. Aber gab es nicht auch Gefahren, die man nicht sah? Die im Verborgenen lauerten und nur darauf warteten, daß der Mensch einen Fehler beging?
Mach dich nicht verrückt! hämmerte er sich ein. Reiß dich zusammen.
Du bist kein kleines Kind mehr. Du hast hier die Arbeit zu erledigen, und die führe zu Ende.
Es war gut, daß Oleg so dachte, denn nun hatte er sich wieder soweit zusammengerissen, daß er seiner Arbeit weiterhin nachgehen konnte und sogar die Wand untersuchte. Er versuchte, neutral ans Werk zu gehen, was ihm nicht so gelang, wie er es sich gewünscht hätte.
Irgendwo in einer versteckten Ecke seines Hirns wußte er schon, daß dieser Stollen nicht normal war. Es lag auch an ihm. Sonst hätte er beileibe nicht so reagiert.
Er war dicht an die Wand herangetreten. Ein kleiner schräger Hang lag vor ihm. Fest, hart. Er klopfte ihn mit seinem Hammer an verschiedenen Stellen ab. Er lauschte den Echos, doch die sagten ihm nichts. Er fand keine Hohlräume und überlegte, wie dick dieses Ende wohl sein konnte.
Ging es darunter weiter? Oder war der Rest des Tunnels einfach zugeschüttet worden?
Niemand wußte es. Aber woher drang der Luftzug? Oleg spürte ihn, er suchte die Quelle und konnte nichts finden. In seiner Umgebung war alles verschlossen.
Wieder war er ins Schwitzen gekommen. Seine Wangen schimmerten feucht. Er hielt den Mund offen und saugte die Luft ein. Durch die Nase stieß er sie wieder aus.
Erst jetzt konzentrierte er sich auf den Geruch. Er war so alt, auch feucht. Das Gestein sonderte ihn ab. Er schmeckte ihn auch auf der Zunge und hatte das Gefühl, ihn von seinen Lippen ablecken zu können.
Der Eindruck, ein Gefangener zu sein, verstärkte sich immer mehr.
Hände hielten ihn umfangen, und vor ihm lauerte weiterhin das Unheil in oder hinter der Wand versteckt.
Die Kontrolle war beendet. Es gab nichts, was Oleg hätte beanstanden können. Er wollte Schluß machen und dachte daran, daß es eigentlich Zeit war, eine Pause einzulegen. Die Luft in diesem Stollen hatte ihn durstig gemacht.
So ging er zurück zu dem Platz, an dem er seine alte Werkzeugkiste abgestellt hatte. Er klappte sie zu beiden Seiten hin auf und holte die alte, schon leicht verbeulte Thermoskanne hervor. Sie war mit Tee gefüllt, den er gern kalt trank. Seine Schwester kochte ihm das Getränk immer vor Dienstbeginn; verheiratet war Oleg nicht. Er lebte in einem kleinen Zimmer bei der Schwester und dem Schwager, der es zu etwas gebracht hatte, wenn auch auf Wegen, die Oleg sehr suspekt vorkamen.
Nicht grundlos lief sein Schwager mit einer Waffe herum und engagierte hin und wieder Leibwächter, um sich schützen zu lassen.
Oleg Stachow hatte sich auf die Erde gesetzt. Die Stollenwand diente ihm als Stütze. Der erste Schluck tat immer besonders gut, aber er löschte den Durst noch nicht. Erst als Oleg die Thermoskanne zur Hälfte geleert hatte, war das trockene Gefühl aus seiner Kehle verschwunden.
Er streckte die Beine aus. Die Helmleuchte strahlte nach vorn und zeichnete einen hellen Kreis an die gegenüberliegende Wand.
Stachow zog die Nase hoch und dachte an den Bericht, den er schreiben mußte. Er würde darin aufführen, daß es keine Unregelmäßigkeiten gab und alles in Ordnung war.
Ja, so wie immer.
Und doch war es gegen seine Überzeugung. Es war nicht alles in Ordnung. In diesem Stollen steckte mehr, als es die beiden Strahlen erhellen konnten. Hier lauerte etwas, das er nicht sah. Das ein Mensch nicht sehen, sondern nur fühlen konnte, und Oleg glaubte, daß es nicht verschwunden war, sondern näher und immer näher kam und sich um seinen Kopf herum verdichtete.
Etwas brummte in seiner Nähe.
Stachow war irritiert. Er ließ die Kanne sinken. Das Brummen blieb. Er hörte es dicht an seinem Ohr. Dann spürte er die Fliege oder Mücke auf seiner rechten Wange - und einen winzigen Augenblick später auch den
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