1099 - Der Werwolf und die Tänzerin
geöffnet wurde.
Es passierte wenige Sekunden später.
Sehr vorsichtig zog er sie auf. Stück für Stück, wie jemand, der es besonders spannend machen will.
Ich sah ihn noch nicht und konzentrierte mich auf den schmalen, hellen Streifen, der sich immer mehr verbreiterte. Darin erkannte ich bereits einen Umriß oder Schatten, ungefähr mannshoch.
Kein Werwolf, ein Mensch.
Einer der laut stöhnte, als er die Tür mit einem heftigen Ruck endgültig öffnete.
Er stand im Licht.
Ich sah ihn.
Und ich sah vor mir einen nackten Mann!
***
Im ersten Moment war ich so überrascht, daß ich nicht reagieren konnte. Innerlich schüttelte ich den Kopf, doch dann war mir klar, daß er nur nackt sein konnte. Auch als Werwolf hatte er keine Kleidung getragen. Jetzt gab es sein dunkles Fell nicht mehr. Statt dessen war wieder die normale Haut zu sehen.
Er schaute mich an, ich betrachtete ihn genau.
Der Mann war recht groß, hatte breite Schultern, eine stark behaarte Brust, kräftige Oberschenkel, ebenfalls kräftige Arme. Sein dunkles Haar war eine lockige Flut, und es drängte sich auch tief in seinen Nacken hinein. Selbst von Gesicht her war sein Alter nur schwer zu schätzen. Es konnte zwischen 30 und 40 liegen, aber das war nicht wichtig.
Der Mann hatte ein breites, etwas hölzern wirkendes Gesicht mit einer sehr kantigen Nase. Seine Augen standen ziemlich weit auseinander, und die blassen Lippen wirkten ebenfalls irgendwie eckig.
Er bewegte die Augen.
Er wollte schauten, sehen, erkennen, um alles in sich aufzunehmen. Er sah neugierig aus, und er blickte nicht nur mich an, sondern schaute sich auch in der nicht sehr großen Kammer um, in der wirklich kein einziges Möbelstück stand.
Dann konzentrierte er sich auf mich. Die Unterlippe schob er vor. Zugleich bewegten sich seine Nasenflügel. Er sah aus wie jemand, der schnupperte, und in dieser Haltung erinnerte er mich wieder an ein Tier. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel mir nicht. Der Mann kam mir vor, als wäre er nicht so recht in der Welt. Wie jemand, der sich erst noch zurechtfinden muß.
Dann betrat er den Raum.
Er setzte seinen ersten Schritt sehr vorsichtig, wie jemand, der Furcht davor hat, in eine Scherbe zu treten. Den Kopf drückte er mal nach rechts, dann wieder nach links, doch an mir zeigte er kein Interesse. Er ließ mich links liegen und ging nackt wie er war durch die Kammer.
Das war schon alles sehr seltsam. Jetzt, wo er sich nicht mehr als Werwolf präsentierte, war auch meine Furcht etwas gewichen. So wie er sich gab, strömte er keine unmittelbare Gefahr aus. Das konnte sich natürlich schnell ändern, und deshalb sprach ich den Mann auch sehr behutsam an.
»He, wer sind Sie?«
Er blieb stehen. Drehte den Kopf. Der Nackte wirkte, als hätte er mich erst jetzt gesehen.
Wir starrten uns an.
Es fiel mir nicht leicht, aber ich versuchte es mit einem Lächeln und wollte so eine kleine Brücke zwischen uns aufbauen. »Wer sind Sie, Mister?«
»Ich bin Lintock. Carl Lintock.«
»Mein Name ist John Sinclair.«
Erst strich er über sein Gesicht, dann über die langen Haare hinweg. Seine Stirn hatte er in Falten gelegt. Er schien zu überlegen, ob er mit dem Namen etwas anfangen konnte.
»Leben Sie hier?« fragte ich.
Lintock schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht so genau. In meinem Kopf ist alles durcheinander. Ich weiß nicht, warum ich nackt bin. Ich kann mich auch nicht erinnern, was ich in der letzten Nacht alles getan habe.«
Oh, da hätte ich ihm helfen können, aber ich hielt mich zunächst einmal zurück.
»Haben Sie geschlafen?«
»Wieso?«
»Das ist in der Nacht so üblich, denke ich.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Das wissen Sie genau?«
»Verdammt!« schrie er mich an.
»Warum fragen Sie so dämlich? Was tun Sie überhaupt hier?«
»Man hat mich hergebracht.«
»Wer?«
»Madeleine Bishop!«
Ich hatte den Namen sehr deutlich ausgesprochen, damit er ihn auch verstehen konnte. Er hatte ihn verstanden, denn er murmelte ihn einige Male vor sich hin.
»Na, kommt es?«
»Ja, ja, Madeleine. Ich weiß Bescheid. Ich kenne sie. Eine tolle Frau, ich mag sie auch.« Der Kopf und auch das Kinn ruckten vor. »Wo ist sie jetzt?«
»Ich weiß es nicht!«
Er duckte sich. Sein Atmen wurde lauter und schwerer. »Ich glaube dir nicht. Du weißt es. Du weißt genau, wohin sie gegangen ist, verdammt noch mal.«
»Nein, das weiß ich nicht.«
Er glaubte mir nicht. Plötzlich war er bei mir. Nach zwei Schritten fiel sein
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