11 - Die Helden des Westens
schriller Schrei erklungen.
„Tiguw-ih, tiguw-ih!“ rief eine Stimme. „Feinde, Feinde!“
„Der Wachtposten ist erwacht. Schnell fort!“ sagte Shatterhand. „Wir nehmen ihn mit!“
Schon flog Winnetou in langen Sätzen nach der Stelle hin, an welcher der gefesselte Schoschone lag, riß ihn empor und rannte mit ihm davon.
Old Shatterhand zeigte hier, welch ein Westmann er war. Die Gefahr lag in seiner größten Nähe, dennoch blieb er noch einige Augenblicke hinter dem Zelt. Er zog die kleinen Ästchen hervor, welche er abgeschnitten hatte, hob die Zeltwand nochmals empor und steckte die ersteren in der Weise in den Boden, daß sie sich wie spanische Reiter kreuzten. Erst dann nahm er den Häuptling auf und eilte mit ihm von dannen.
Die Schoschonen hatten nahe um das Feuer gesessen: ihre an die Helligkeit desselben gewöhnten Augen konnten, wie Old Shatterhand ganz wohl vermutet hatte, sich nicht augenblicklich an das nächtliche Dunkel gewöhnen. Sie waren aufgesprungen und starrten zwar in die Nacht hinaus, konnten aber nichts sehen. Zudem hatten sie nicht unterscheiden können, von welcher Seite der Hilferuf erklungen war. So kam es, daß Winnetou und Old Shatterhand der gefährliche Rückzug vollständig gelang.
Der Apache hatte sogar unterwegs einmal stehenbleiben müssen. Es war ihm unmöglich gewesen, dem Schoschonen mit der Hand den Mund vollständig zu verschließen. Es war dem Gefangenen zwar nicht gelungen, abermals um Hilfe zu rufen, aber er hatte doch ein so lautes Stöhnen hervorbringen können, daß der Apache einen Augenblick stillhalten mußte, um ihm mit der Hand die Gurgel zuzudrücken.
„Alle Wetter, wen bringt ihr da?“ fragte der lange Davy, als die beiden ihre Gefangenen zu Boden geworfen hatten.
„Geiseln“, antwortete Shatterhand. „Gebt ihnen nur schnell Knebel in den Mund, und der Häuptling muß gefesselt werden.“
„Der Häuptling? Macht Ihr Spaß, Sir?“
„Nein, er ist's.“
„Heavens! Welch ein Streich! Davon wird man noch lange Zeit erzählen! Den ‚Schwarzen Hirsch‘ mitten unter seinen Roten herauszuholen! Das können eben nur Old Shatterhand und Winnetou fertigbringen!“
„Jetzt keine unnötigen Reden! Wir müssen fort, hinauf zur Höhe, wo unsere Pferde sind.“
„Mein Bruder braucht sich nicht zu beeilen“, sagte der Apache. „Wir können hier besser sehen als da oben, was die Schoschonen beginnen werden.“
„Ja, Winnetou hat recht“, gestand Shatterhand ein. „Es kann den Schoschonen nicht einfallen, hierher zu kommen. Sie wissen nicht, mit wem und mit wie vielen sie es zu tun haben. Sie werden sich darauf beschränken müssen, ihr Lager zu sichern. Erst mit Anbruch des Tages ist es ihnen möglich, etwas zu unternehmen.“
„Winnetou wird ihnen eine Warnung sagen, die ihnen den Mut benimmt, ihr Lager zu verlassen.“
Der Apache nahm seinen Revolver und hielt die Mündung desselben ganz nahe an die Erde. Shatterhand verstand ihn sogleich.
„Halt“, sagte er. „Sie dürfen den Blitz des Schusses nicht sehen, damit sie nicht wissen, wo wir uns befinden. Ich denke, es wird ein Echo geben, durch welches sie getäuscht werden. Gebt eure Jacken und Röcke her, Mesch'schurs!“
Der lange Davy nahm seinen famosen Gummimantel von der Schulter; auch die anderen befolgten Shatterhands Gebot. Die Kleidungsstücke wurden vorgehalten, und dann drückte Winnetou zweimal ab. Die Schüsse krachten. Sie hallten von den Talwänden wider, und da der Blitz nicht zu sehen gewesen war, konnten die Schoschonen allerdings nicht wissen, an welcher Stelle geschossen worden war. Sie antworteten mit einem durchdringenden Geheul.
Als sie den Ruf „Tiguw-ih, tiguw-ih – Feinde, Feinde!“ gehört hatten, waren sie, wie bereits erwähnt, vom Feuer aufgesprungen und hatten sich bemüht, nach den Feinden auszuschauen. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und dann befanden Shatterhand und Winnetou sich bereits in Sicherheit. Die Roten konnten also niemand sehen.
Es fiel ihnen auf, daß sie nicht angegriffen wurden. Wenn wirklich Feinde vorhanden waren, so hätten diese doch wohl nicht gezögert, über das Lager herzufallen. Der Alarmruf beruhte also wohl auf einem Irrtum. Wer aber hatte ihn ausgestoßen? Jedenfalls einer der Wächter. Er mußte gefragt werden. Ihn herbeirufen, war Sache des Häuptlings. Wie aber kam es, daß dieser so ruhig in seinem Zelt sitzen blieb?
Mehrere der roten Krieger traten an den Eingang des Zeltes. Sie blickten
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