11 - Nie sollst Du vergessen
er sich freundlich gab, wie sie das alle taten -, trotz der langen Narbe auf der Wange.
»Nur eine Frage, Mrs. Edwards.« An seinem höflichen Ton war nichts auszusetzen. Er hielt Abstand, respektierte die Trennungslinie des Verkaufstischs, der zwischen ihnen stand. Aber anstatt auf die Frage zu kommen, die er angeblich hatte, sagte er: »Ich find's echt gut, dass in einer Straße wie der hier ein neues Geschäft aufmacht. Es ist doch jedes Mal ein Jammer, wenn wieder ein Laden schließt und mit Brettern vernagelt wird. Da ist es ein Glück, wenn jemand so einen kleinen Betrieb übernimmt, statt dass irgendein reicher Typ sämtliche Grundstücke aufkauft, dann mit der Abbruchstruppe anrückt und einen Supermarkt oder so was hinstellt.«
Sie ließ ein geringschätziges kleines Lachen hören. »Die Miete ist billig, wenn man bereit ist, sich auf einer Müllhalde niederzulassen«, sagte sie, als bedeutete es ihr gar nichts, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, sich etwas aufzubauen, wovon sie in den Jahren im Gefängnis nur hatte träumen können.
Nkata lächelte flüchtig. »Da haben Sie wahrscheinlich Recht. Aber die Nachbarn sind bestimmt froh. Das macht ihnen doch Hoffnung. Was bieten Sie denn den Leuten hier an?«
Was sie den Leuten hier anbot, war offensichtlich. An der Wand standen Styroporköpfe mit Perücken, und hinten war ein Arbeitsraum, wo sie sie frisierte. Er hatte beides im Blick, darum konnte sie seine Frage nicht für bare Münze nehmen, sondern hielt sie für einen plumpen Anbiederungsversuch. Sie betrachtete ihn mit einem kurzen, abschätzigen Blick und sagte: »Und was treiben Sie so als Bulle?«
Er zuckte die Achseln. »Was anfällt. Irgendwie muss man sich ja sein Geld verdienen.«
»Auf Kosten der Brüder.«
»Wenn's so läuft, kann man's nicht ändern.«
Es hörte sich an, als hätte er die Frage, was es für ihn bedeuten würde, eines Tages vielleicht einen der eigenen Leute festnehmen zu müssen, längst für sich geklärt. Es machte sie wütend, und sie sagte mit einer ruckartigen Kopfbewegung zu seinem Gesicht:
»Wo haben Sie sich das da geholt?«, als wäre die Narbe auf seiner Wange der gerechte Lohn dafür, dass er seine eigenen Leute im Stich gelassen hatte.
»Messerstecherei«, antwortete er. »Ich war damals fünfzehn und hab mir eingebildet, ich wäre der Größte. Ich hatte ein Riesenglück.« »Der andere Typ wahrscheinlich nicht, was?«
Er betastete die Narbe, als helfe es ihm, sich zu erinnern.
»Kommt drauf an, wie man Glück definiert.«
Sie prustete nur verächtlich und beugte sich wieder über den Schminkkoffer. Sie ordnete die Lidschatten nach Farbnuancen, zog Lippenstifthülsen ab, um sich auch hier an den Farben zu orientieren, klappte Rouge- und Puderdosen auf, prüfte den Inhalt jedes einzelnen Fläschchens der Flüssiggrundierung. Demonstrativ machte sie sich Notizen, füllte säuberlich ein Bestellformular aus und achtete dabei so gewissenhaft auf ihre Rechtschreibung, als hinge das Leben ihrer Kundinnen davon ab.
»Ich war damals bei einer Bande«, fügte Nkata erklärend hinzu. »Aber nach diesem Kampf bin ich ausgestiegen. Hauptsächlich wegen meiner Mutter. Als sie in der Notaufnahme mein Gesicht gesehen hat, ist sie umgefallen wie ein Baum. Danach musste sie mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Das hat mir gereicht.«
»Aha, Sie lieben Ihre Mama.« So ein Quatsch, dachte sie.
»Reine Notwehr«, erwiderte er.
Sie blickte verblüfft auf und sah, dass er lächelte, aber über sich selbst, wie es schien, nicht nur über sie.
»Ihr Sohn ist ein netter Junge«, sagte er.
»Lassen Sie meinen Sohn aus dem Spiel.« Sie war selbst überrascht, mit welcher Panik sie reagierte.
»Sein Vater fehlt ihm wahrscheinlich, hm?«
»Ich hab gesagt, halten Sie sich da raus!«
Nkata trat plötzlich an den Verkaufstisch. Er legte seine beiden Hände flach auf die Platte, als wollte er zeigen, dass er unbewaffnet sei. Aber Yasmin wusste es besser. Bullen hatten immer Waffen bei sich und wussten auch, sie zu gebrauchen. Wie jetzt Nkata. »Vor zwei Tagen ist nachts eine Frau umgekommen, Mrs. Edwards«, sagte er, »oben in Hampstead. Sie hatte auch einen Sohn.«
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Sie ist überfahren worden. Sie wurde dreimal überrollt, vom selben Wagen.«
»Ich kenne niemanden in Hampstead. Ich komm nie nach Hampstead. Ich war noch nie in meinem Leben dort. Wenn ich mich dort blicken ließe, würde ich auffallen wie ein Kaktus in
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