11 - Nie sollst Du vergessen
sollte, nicht gesehen zu werden, wenn er mit ihr in denselben Waggon steigen müsste. Aber anstatt in die Halle zu gehen, wie er erwartet hatte, stellte sie sich wieder an eine Bushaltestelle und stürzte sich nach fünf Minuten Warten in die nächste Fahrt durch Südlondon.
Diesmal hatte sie keinen Fensterplatz, und Nkata müsste an jeder Haltestelle scharf aufpassen, um sie nicht zu übersehen, falls sie aussteigen sollte. Es war anstrengend, und das wütende Gehupe der Autofahrer rundherum war auch nicht gerade entspannend, aber er versuchte, sich davon nicht irritieren zu lassen, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das, was wichtig war.
Am Bahnhof Putney konnte er endlich aufatmen. Katja Wolff sprang aus dem Bus und ging, ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen, die Upper Richmond Street hinauf.
Unmöglich, ihr im Auto zu folgen. Da würde er ihr entweder sofort auffallen oder sich die Wut sämtlicher heimwärts strebender Pendler zuziehen, die hinter ihm herzuckeln mussten. Er überholte sie und stellte seinen Wagen ungefähr fünfzig Meter weiter in einer Halteverbotszone auf der anderen Straßenseite ab. Dann wartete er, blickte in den Rückspiegel, den er so eingestellt hatte, dass er den Bürgersteig gegenüber zeigte.
Es dauerte nicht lange, da kam sie, Kopf gesenkt und Kragen hochgeschlagen zum Schutz gegen den Wind. Sie bemerkte ihn nicht. Ein gebotswidrig geparktes Auto ist in London nichts Bemerkenswertes. Und selbst wenn sie ihn gesehen hätte, im schwindenden Licht des Tages wäre er nur irgendein Fremder gewesen, der in seinem Wagen saß und auf jemanden wartete.
Als sie ungefähr zwanzig Meter vor ihm war, stieg Nkata aus dem Wagen und heftete sich an ihre Fersen. Im Gehen schlüpfte er in seinen Mantel, wickelte sich den Schal um den Hals und dankte seinem guten Stern, dass seine Mutter ihn heute Morgen gezwungen hatte, das Ding mitzunehmen. Er drückte sich in den Schatten des Stamms einer alten Platane, als Katja Wolff stehen blieb, sich mit dem Rücken in den Wind drehte und eine Zigarette anzündete. Dann trat sie an den Bordstein, wartete auf eine Lücke im Verkehr und rannte zur anderen Straßenseite hinüber.
Hier mündete die Straße in ein kleines Einkaufsviertel. In den Häusern waren oben die Wohnungen und unten die Geschäfte - Schreibwaren, Zeitungen, Videothek, Restaurants, Blumengeschäfte und Ähnliches.
Katja Wolff ging schnurstracks auf Frère Jacques' Bar und Brasserie zu, wo sowohl die britische als auch die französische Flagge im Wind knallten. Es war ein freundliches, gelb gestrichenes Haus mit altmodischen Sprossenfenstern, innen hell erleuchtet. Als sie hineinging, wartete Nkata auf eine Gelegenheit, die Straße zu überqueren, und bis er das geschafft hatte, hatte sie drinnen schon ihren Mantel ausgezogen und ihn einem Kellner gegeben, der sie zum Tresen jenseits der Gruppe kleiner Tische mit brennenden Kerzen wies. Das Lokal war leer, bis auf eine gut gekleidete Frau im schwarzen Schneiderkostüm, die mit einem Drink an der Bar saß.
Sieht nach Kohle aus, dachte Nkata, ihr Haar musternd, das, kurz geschnitten, wie ein glänzender Helm um ihren Kopf lag; und ihre Kleidung, geschmackvoll und zeitlos, wie es nur für viel Geld zu bekommen ist. Nkata hatte in den Jahren, in denen er einen neuen Menschen aus sich gemacht hatte, genug Zeit mit der Lektüre des GQ verbracht, um zu wissen, wie Leute aussahen, die ihre Klamotten in Gegenden wie Knightsbridge einkauften, wo zwanzig Pfund bestenfalls für ein Taschentuch reichten.
Katja Wolff näherte sich dieser Frau, die lächelnd von ihrem Hocker glitt und ihr entgegenging. Sie gaben einander die Hände, drückten ihre Wangen aneinander und hauchten Küsschen in die Luft. Dann bedeutete die Frau Katja Wolff, sich zu ihr zu setzen.
Nkata kroch tiefer in seinen Mantel und beobachtete die beiden aus den Schatten jenseits der Fensterreihe der Brasserie. Sollten sie in seine Richtung schauen, konnte er so tun, als interessierte er sich brennend für die am Schaufenster des Supermarkts angeschlagenen Sonderangebote - spanischer Rotwein war zu Schleuderpreisen zu haben, wie er feststellte. Und inzwischen konnte er sie im Auge behalten und versuchen herauszubekommen, in welcher Beziehung sie zueinander standen, obwohl er bereits eine ziemlich klare Vorstellung hatte. Er hatte ja die vertrauliche Begrüßung gesehen. Und die Frau in Schwarz hatte Geld, was Katja Wolff bestimmt bestens in den Kram passte. Das
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