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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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sorgfältig darauf, vor Ihnen nicht über die Sache zu sprechen. Sie werden sich also nicht erinnern - wussten es wahrscheinlich nie -, dass man ihre Familie ausfindig gemacht hatte. Weiß der Himmel, wie, obwohl die Ostdeutschen vermutlich nur zu gern Auskunft gaben, als Warnung für jeden, der eine Flucht plante ...«
    »Was war mit der Familie?«, drängte ich.
    »Beide Eltern verloren die Arbeit, und die Geschwister mussten ihr Universitätsstudium aufgeben. Aber glauben Sie ja nicht, Katja hätte in der Zeit, in der sie bei Ihnen lebte, auch nur eine einzige Träne um ihre Eltern oder Geschwister geweint! Glauben Sie ja nicht, sie hätte auch nur einmal versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und ihnen irgendwie zu helfen! Im Gegenteil, sie hat nicht einmal von ihnen gesprochen. Sie existierten nicht für sie.«
    »Hatte sie damals Freunde?«
    »Hm. Ich erinnere mich an diese Dicke mit dem lockeren Mundwerk. Waddington hieß sie mit Nachnamen, das weiß ich noch, weil der Name zu ihr passte. Sie ging nicht, sie watschelte, wissen Sie.«
    »Hieß die Frau Katie?«
    »Richtig. Ja. Katie Waddington. Katja kannte sie aus dem Kloster, und als sie zu Ihrer Familie zog, kam diese Waddington - Katie - regelmäßig vorbei. Meistens saß sie irgendwo herum und stopfte sich voll - kein Wunder, dass sie so dick war. Und sie redete ständig von Freud und von Sex. Sie war völlig fixiert auf Sex. Freud und Sex. Sex und Freud. Die Bedeutung des Orgasmus, die Lösung des Ödipuskomplexes, die Befriedigung unerfüllter und verbotener kindlicher Wünsche, die Funktion der Sexualität als Katalysator für Veränderung, die sexuelle Versklavung der Frauen durch die Männer und der Männer durch die Frauen ...« Sarah-Jane beugte sich vor, ergriff die Kaffeekanne und sah mich lächelnd an: »Noch eine Tasse? Oh, Sie haben ja noch nicht mal probiert. Kommen Sie. Ich gieße Ihnen eine frische Tasse ein.«
    Und bevor ich etwas erwidern konnte, schnappte sie sich meine Kaffeetasse und verschwand in der Küche.
    Ich war allein mit meinen Gedanken: über plötzlichen Ruhm und sein Verblassen, über die Zerstörung der engsten Familie, über Wünsche und Träume und die entscheidende Fähigkeit, die Erfüllung solcher Wünsche und Träume zurückzustellen, über äußerliche Schönheit und Reizlosigkeit, über die Möglichkeit, aus Bosheit zu lügen oder aus dem gleichen Grund die Wahrheit zu sagen.
    Als Sarah-Jane zurückkam, hatte ich meine Frage parat: »Was ereignete sich an dem Abend, an dem meine Schwester starb? Ich erinnere mich an Folgendes: Plötzlich kamen die Sanitäter oder Notärzte oder wer immer. Wir beide - Sie und ich - befanden uns in meinem Zimmer, während sie sich um Sonia kümmerten. Ich hörte mehrere Menschen weinen. Ich glaube, ich hörte auch Katjas Stimme. Aber das ist meine ganze Erinnerung. Was ist damals wirklich geschehen?«
    »Aber das kann Ihnen doch Ihr Vater viel besser beantworten als ich. Haben Sie ihn denn nicht gefragt?«
    »Es fällt ihm sehr schwer, über die Zeit damals zu sprechen.«
    »Sicher, ja ... Aber ich ...« Sie spielte mit ihren Perlen. »Zucker? Milch? Sie müssen meinen Kaffee kosten.«
    Als ich gehorsam die Tasse mit dem bitteren Gebräu zum Mund führte, sagte sie: »Ich kann da leider nicht viel hinzufügen. Ich war in meinem Zimmer, als es geschah. Ich hatte Ihre Unterrichtsstunde für den nächsten Tag vorbereitet und war gerade auf einen Sprung zu James hinüber gegangen, weil ich ihn um seine Hilfe bitten wollte. Ich hatte vor, in der nächsten Unterrichtsstunde mit Ihnen die Maße und Gewichte durchzunehmen, und hoffte, ihm würde ein Einstieg zu dem Thema einfallen, der Ihr Interesse hervorrufen würde. Ich meine, er war ein Mann - ist es natürlich immer noch, wenn er noch am Leben ist, und es besteht kein Anlass, das Gegenteil anzunehmen -, und ich dachte, er hätte vielleicht ein Idee, die einen kleinen Jungen, der sich im Grunde nur für die Musik interessierte« - hier zwinkerte sie mir zu - »neugierig machen könnte. Wir besprachen also verschiedene Möglichkeiten, als wir unten Lärm hörten -laute Stimmen, Gepolter, Türenschlagen und so weiter. Wir liefen nach unten, und da waren schon alle im Flur -«
    »Alle?«
    »Ja. Ihre Mutter, Ihr Vater, Katja, Raphael Robson, Ihre Großmutter ...«
    »Mein Großvater auch?«
    »Ich weiß nicht ... Doch, er muss da gewesen sein. Außer er war - na ja, wieder einmal auf dem Land zur Erholung. Nein, nein, er muss auch da gewesen

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