11 - Nie sollst Du vergessen
seine Brille wieder auf.
»Ein paar Jahre später starb wieder ein Kind praktisch unter seinen Augen«, fuhr Barbara fort, während Lynley ihre Aufzeichnungen durchsah. »Das hört sich nicht sehr gut an, hm?«
»Wenn er tatsächlich Sonia Davies getötet hat«, begann Lynley, »und Katja Wolff für ihn den Kopf hingehalten -«
»Vielleicht«, fiel Barbara ihm ins Wort, »hat sie deshalb kein Wort mehr gesagt, nachdem sie festgenommen worden war, Sir. Angenommen, sie und Pitchford hatten was am Laufen - ich meine, sie war ja schwanger -, dann war den beiden bei Sonias Tod doch klar, dass die Polizei Pitchford sehr genau unter die Lupe nehmen würde, sobald sie rausgekriegt hätte, wer er wirklich war und dass er schon einmal in den Tod eines Kindes verwickelt war. Also beschlossen sie, Sonia Davies' Tod als Unfall hinzustellen, als Folge einer Unachtsamkeit -«
»Aber warum hätte Pitchford die kleine Davies ertränken sollen?«
»Neid auf alles, was diese Familie hatte und er nicht. Wut darüber, wie sie seine Geliebte behandelten. Er möchte sie aus der Situation befreien, oder er will sich an Leuten rächen, denen das Schicksal alles gegeben hat, was er niemals bekommen wird. Also bringt er das Kind um. Und Katja springt für ihn in die Bresche, weil sie seine Vergangenheit kennt und glaubt, dass sie selbst höchstens ein, zwei Jahre wegen Fahrlässigkeit bekommen wird, während man ihn wahrscheinlich wegen vorsätzlichen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilen würde. Sie denkt keinen Moment darüber nach, wie die Geschworenen auf ihr stures Schweigen zum Tod eines behinderten Kleinkindes reagieren werden. Überlegen Sie bloß mal, was denen wahrscheinlich durch den Kopf gegangen ist, Sir: Erinnerungen an Mengele und Konsorten, und diese Person weigert sich, darüber Auskunft zu geben, was geschehen ist. Also gibt der Richter ihr die Höchststrafe und brummt ihr zwanzig Jahre auf. Pitchford setzt sich ab und lässt sie im Knast schmoren, während er sich in Pitchley verwandelt und in der City absahnt.«
»Und weiter?«, fragte Lynley. »Sie wird aus dem Gefängnis entlassen, und wie geht es dann weiter, Havers?«
»Sie erzählt Eugenie Davies, wie es wirklich war, wer das Kind in Wirklichkeit getötet hat. Eugenie heftet sich Pitchley an die Fersen und stöbert ihn auf, so wie ich Pytches aufgestöbert habe. Sie fährt zu ihm, um ihn zu stellen, aber dazu kommt es nicht.«
»Weil?«
»Weil sie auf der Straße getötet wird.«
»Das weiß ich. Aber von wem, Barbara?«
»Ich denke, Leach ist auf der richtigen Spur, Sir.«
»Von Pitchley? Aber warum?«
»Katja Wolff will Gerechtigkeit. Eugenie Davies ebenfalls. Der einzige Weg zur Gerechtigkeit führt über eine Verurteilung Pitchleys. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er damit einverstanden gewesen wäre.«
Lynley schüttelte den Kopf. »Wie erklären Sie dann den Anschlag auf Webberly?«
»Ich denke, die Antwort darauf wissen Sie schon.«
»Die Briefe, meinen Sie?«
»Es ist Zeit, sie auszuhändigen, Sir. Sie müssen doch einsehen, dass sie von großer Bedeutung sind.«
»Barbara, sie sind mehr als zehn Jahre alt! Sie zählen hier nicht.«
»Falsch, falsch, falsch.« Barbara zerrte frustriert an ihren sandblonden Stirnfransen. »Sagen wir, Pitchley und die Davies hatten was miteinander. Sagen wir, das war der Grund, weshalb sie neulich Abend in seiner Straße war. Sagen wir, er hat sich des öfteren heimlich in Henley mit ihr getroffen und ist bei einem dieser Rendezvous auf die Briefe gestoßen. Er rastet aus vor Eifersucht, bringt erst sie um und versucht's dann bei dem Superintendent.«
Lynley schüttelte den Kopf. »Barbara, Sie können nicht dies und das zugleich haben. Sie verbiegen die Fakten, um sie einer Theorie anzupassen. Aber sie passen nicht, und die Theorie passt auch nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil sie zu vieles unerklärt lässt.« Lynley hakte die einzelnen Punkte ab. »Wie hätte Pitchley eine Liebesbeziehung zu Eugenie Davies unterhalten können, ohne dass Ted Wiley das gemerkt hätte? Wiley hat doch, wie wir wissen, genau beobachtet, was in Eugenie Davies' Haus vorging. Was hatte Eugenie Wiley zu beichten, und warum starb sie genau in der Nacht, bevor sie ihre Beichte ablegen wollte? Wer ist Jete? Mit wem hat sich Eugenie Davies in all diesen Pubs und Hotels getroffen? Und was fangen wir mit dem seltsamen Zusammentreffen an, dass genau in der Zeit, als Katja Wolff aus dem Gefängnis entlassen wird, Anschläge auf
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