11 - Nie sollst Du vergessen
weiß ich auch. Darum werde ich etwas tun müssen, was ich nie zuvor getan habe: So absurd es sich anhört, ich werde den Leuten etwas vormachen, wenn nötig improvisieren müssen; ich werde die Tonart beibehalten, aber irgendetwas Beliebiges spielen, um diese Katastrophe zu überstehen.
Ich beginne zu spielen. Natürlich ist alles falsch, und es ist auch nicht die richtige Tonart. Zu meiner Linken springt der Konzertmeister auf, und ich sehe, dass es Raphael Robson ist. »Raphael«, möchte ich rufen. »Du spielst ja! Vor Publikum!« Aber da folgen schon die übrigen Geiger seinem Beispiel und stehen ebenfalls auf. Protestierend bestürmen sie den Dirigenten, und die Cellisten und Bassisten tun es ihnen gleich. Ich höre das Gewirr ihrer Stimmen. Ich versuche, sie durch mein Spiel zu übertönen, genau wie ich das Schreien des kleinen Kindes zu übertönen suche. Aber es gelingt mir nicht. Es ist nicht meine Schuld, möchte ich ihnen zurufen, und sage laut: »Hört ihr es nicht? Hört ihr es denn nicht?«, ohne mein Spiel zu unterbrechen. Ich beobachte dabei den Dirigenten, der fortfährt, das Orchester zu dirigieren, als hätte es nie aufgehört zu spielen.
Da tritt Raphael an den Dirigenten heran, der sich daraufhin mir zuwendet. Es ist mein Vater. »Spiel!«, fährt er mich an, und ich bin so überrascht, ihn dort zu sehen, wo er gar nicht hingehört, dass ich zurückweiche, und die Dunkelheit des Zuschauerraums mich einhüllt.
Ich mache mich auf die Suche nach dem schreienden kleinen Kind. Ich taste mich in der Finsternis den Mittelgang hinauf, bis ich erkenne, dass das Schreien hinter einer geschlossenen Tür hervordringt.
Ich öffne diese Tür. Plötzlich bin ich draußen im Freien, es ist heller Tag, und vor mir sehe ich einen gigantischen Brunnen. Aber es ist kein gewöhnlicher Brunnen; im Wasser stehen ein Mann, der aussieht wie ein Geistlicher, er ist ganz in Schwarz gekleidet, und eine Frau in Weiß, die einen laut weinenden Säugling an ihre Brust gedrückt hält. Noch während ich hinsehe, taucht der Geistliche beide unter Wasser - die Frau und den Säugling, den sie im Arm hält -, und ich weiß, dass die Frau Katja Wolff ist und das Kind meine Schwester.
Ich weiß, dass ich irgendwie zu dem Brunnen gelangen muss, aber meine Füße sind plötzlich so schwer, dass ich sie nicht heben kann. Ich kann nur hilflos zusehen, was geschieht, und als Katja Wolff wieder auftaucht, ist sie allein.
Das nasse weiße Kleid klebt an ihrem Körper. Durch den Stoff hindurch sind ihre Brustwarzen zu sehen und ihr Schamhaar, dicht und schwarz wie die Nacht und wild, so wild gekraust über ihrem Geschlecht, das immer noch durch das nasse Kleid schimmert, so als trüge sie gar keines. Ich spüre, wie etwas in mir erwacht, diese stürmische Begierde, die ich seit Jahren nicht mehr gefühlt habe. In mir beginnt es zu pochen, und ich bin glücklich darüber und vergesse das Konzert, aus dem ich geflohen bin, und die Zeremonie im Wasser, deren Zeuge ich soeben wurde.
Ich kann meine Füße frei bewegen. Ich nähere mich dem Brunnen. Katja hält mit den Händen ihre Brüste umfasst. Aber ehe ich den Brunnen und sie erreiche, tritt mir der Geistliche in den Weg. Ich sehe ihn an, und es ist mein Vater.
Er geht zu ihr. Er tut mit ihr, was ich tun möchte, und ich muss zusehen, wie ihre zuckenden Körper sich vereinigen, während das Wasser träge um ihre Beine spielt.
Ich schreie laut auf und erwache.
Und das, was mir seit - ich weiß nicht, wie lange - seit Beth versagt geblieben war, Dr. Rose, war plötzlich da. Hart und pulsierend stand mein Penis zwischen meinen Beinen, und das nur dank eines Traums, in dem ich nicht mehr war als ein Voyeur der Lust meines Vaters.
Ich lag in der Dunkelheit, voller Verachtung für mich selbst; voller Verachtung für meinen Körper und meinen Geist und für das, was beide mir mit diesem Traum sagen wollten. Und während ich da so lag, kam mir eine Erinnerung.
An Katja. Mit meiner Schwester auf dem Arm, die schon für die Nacht gekleidet ist, kommt sie ins Speisezimmer, wo wir alle beim Abendessen sitzen. Sie ist aufgeregt, man merkt es daran, dass ihr Englisch holpriger ist als sonst. »Schauen Sie!«, ruft sie. »Schauen Sie, was kann die Kleine!«
Großvater sagt unwillig: »Was gibt es denn jetzt schon wieder?«, und es folgt ein Moment, in dem ich Spannung wahrnehme, während die Erwachsenen einander ansehen: Meine Mutter sieht meinen Großvater an, mein Vater meine Großmutter,
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