11 - Nie sollst Du vergessen
Von diesem gruseligen Wohnzimmer hatte sie sowieso genug.
Er arbeitete sich von hinten nach vorn durch die Wohnung, rief: »Dad?«, als er zuerst eine Schlafzimmertür und dann eine Badezimmertür öffnete. Libby blieb bei ihm. Sie wollte ihm gerade sagen, es sei doch mittlerweile ziemlich klar, dass Richard nicht zu Hause sei, und er könne es sich sparen, durch die Wohnung zu brüllen, als wäre sein Vater in den letzten vierundzwanzig Stunden plötzlich taub geworden, da stieß er die nächste Tür auf.
Das Zimmer dahinter war die absolute Krönung. Libby folgte ihm hinein und sagte verblüfft: »Hoppla! Entschuldigung«, als ihr Blick auf einen Soldaten in Uniform fiel, der neben der Tür stand. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass der Soldat nicht der verkleidete Richard war, der sie und seinen Sohn zu Tode erschrecken wollte. Der Soldat war eine Puppe. Vorsichtig trat sie näher. »Wahnsinn! Was soll denn das?«, fragte sie und wandte sich Gideon zu.
Aber der war schon am anderen Ende des Raums an einem Schreibtisch, dessen Klappe er geöffnet hatte, um nun sämtliche Fächer und Schubladen zu durchsuchen. Er sah so konzentriert aus, dass er sie wahrscheinlich gar nicht hören würde, wenn sie jetzt fragte, was sie gern fragen wollte - was, zum Teufel, Richard mit dieser Gruselfigur in seiner Wohnung wollte und ob Gideon glaube, dass Jill davon wisse.
Glasvitrinen und Schaukästen standen herum, genau wie in einem Museum. In ihnen waren Briefe, Orden, Urkunden, Telegramme und aller möglicher anderer Schrott ausgestellt, der, wie sich bei näherer Betrachtung zeigte, aus dem Zweiten Weltkrieg zu stammen schien. An den Wänden hingen Bilder aus der gleichen Zeit, alle zeigten sie einen Typen beim Militär. Hier lag er bäuchlings auf der Erde und blinzelte an einem Gewehrlauf entlang wie John Wayne in einem Kriegsfilm. Dort rannte er neben einem Panzer her. Auf dem nächsten Foto hockte er im Schneidersitz da, umgeben von einer Gruppe ähnlicher Typen, die ihre Waffen so lässig geschultert hatten, als war's ganz normal, eine AK-47 - oder was es damals gewesen war - über der Schulter zu tragen. Kein Mensch würde sich heute mit so was brüsten, außer er gehörte irgendeiner martialischen Neonazi-Truppe an.
Libby war mulmig zumute. Sie hätte nichts dagegen gehabt, innerhalb der nächsten dreißig Sekunden aus diesem Gruselkabinett zu verschwinden.
Dieser Wunsch wurde stärker, als sie die letzte Serie Fotos sah.
Die Bilder zeigten denselben Typen wie vorher, aber unter gänzlich anderen Umständen. Er sah aus wie einer aus einem Konzentrationslager. Er wog höchstens noch dreißig Kilo, und sein ganzer Körper war eine einzige eiternde Wunde. Er lag in einer Blätterhütte auf einer Pritsche, und seine Augen waren so tief in seinen Schädel eingesunken, dass es aussah, als wollten sie sich durch ihn hindurchbrennen. Aber sie waren lebendig, diese Augen. Sie blickten in die Kamera, und sie sagten, euch krieg ich, und wenn's ewig dauert. Richtig unheimlich.
Hinter Libby wurden Schubladen zugestoßen und andere herausgezogen. Papier raschelte, Gegenstände wurden zu Boden geworfen. Sie sah Gideon zu und dachte, wenn Richard das sieht, wird er total ausrasten, aber es war ihr ziemlich egal, denn Richard erntete ja nur, was er über so lange Zeit gesät hatte.
»Gideon«, sagte sie. »Was suchen wir hier eigentlich?«
»Er hat ihre Adresse. Er muss sie haben.«
»Das ist doch Unsinn.«
»Doch, er weiß, wo sie ist. Er hat sie gesehen.«
»Hat er dir das gesagt?«
»Sie hat ihm geschrieben. Er weiß die Adresse.«
»Gid, hat er dir das gesagt?« Libby glaubte es nicht. »Hey, warum sollte sie ihm schreiben? Warum sollte sie versuchen, ihn zu treffen? Cresswell-White hat doch gesagt, dass sie zu euch keine Verbindung aufnehmen darf, sonst haut es mit ihrer Bewährung nicht mehr hin. Die hat gerade zwanzig Jahre gesessen, richtig? Glaubst du, sie will gleich noch mal drei oder vier Jahre zurück in den Knast?«
»Er weiß es, Libby. Und ich auch.«
»Was tust du dann hier? Ich meine, wenn du es weißt ...« Gideons Verhalten wurde von Minute zu Minute rätselhafter. Libby dachte flüchtig an die Psychiaterin. Sie wusste ihren Namen, Dr. Soundso Rose, aber das war auch alles. Sollte sie jeden Dr. Rose im Telefonbuch anrufen - wie viele konnte es da geben? - und sagen: Entschuldigen Sie, ich bin eine Freundin von Gideon Davies. Ich krieg langsam den Horror. Der benimmt sich total seltsam.
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