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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Warum fährst du nicht einfach mit mir nach Hause? Wir können deinem Dad einen Zettel hinlegen, und wenn er heimkommt, kann er dich anrufen, und wir können wieder hierher fahren.«
    »Ich warte hier«, hatte er gesagt, die Tür aufgemacht und hinter ihr geschlossen, ohne sie auch nur einmal anzusehen.
    Was hatte das zu bedeuten, dass er unbedingt auf seinen Vater warten wollte? Würde es jetzt zur großen Abrechnung zwischen den beiden kommen? Sie hoffte es von Herzen. Denn die große Abrechnung zwischen Vater und Sohn war seit Ewigkeiten fällig.
    Sie versuchte, es sich vorzustellen, eine heftige Auseinandersetzung, heraufbeschworen durch Gideons Entdeckung, dass er noch eine Schwester gehabt hatte, eine zweite Schwester, von deren Existenz er nie erfahren hatte. Er würde die Karte ergreifen, die Virginias Mutter an Richard geschrieben hatte, und sie seinem Vater zornig vor die Nase halten. »Los«, würde er sagen, »erzähl mir von ihr, du Mistkerl. Erklär mir, warum ich sie nie kennenlernen durfte.«
    Denn das schien der springende Punkt zu sein, der Ursprung von Gideons Wut, als er die Karte gelesen hatte: dass sein Vater ihm diese Schwester verheimlicht hatte, obwohl sie immer dagewesen war.
    Und warum?, dachte Libby. Warum hatte es Richard darauf angelegt, Gideon von seiner noch lebenden Schwester fern zu halten? Aus dem gleichen Grund, aus dem er alles andere tat: um Gideon auf die Geige zurückzuverweisen, und einzig auf die Geige.
    Nein, nein, nein. Keine Freunde, Gideon. Keine Partys. Kein Sport. Keine öffentliche Schule. Du musst üben, spielen, auftreten, Geld ranschaffen. Und das kannst du nicht, wenn du andere Interessen neben deinem Instrument hast. Wie beispielsweise eine Schwester.
    Mein Gott, dachte Libby. Was für ein gemeiner Kerl. Er hatte Gideons Leben total verkorkst.
    Wie, versuchte sie sich vorzustellen, hätte dieses Leben sich entfaltet, wenn Gideon es nicht ausschließlich mit seiner Musik zugebracht hätte? Er wäre zur Schule gegangen wie ein ganz gewöhnlicher kleiner Junge. Er hätte Sport getrieben, Fußball gespielt vielleicht. Er wäre Fahrrad gefahren, auf Bäume geklettert, wäre vielleicht auch mal runtergefallen und hätte sich was gebrochen. Er wäre abends mit seinen Freunden auf ein Bier gegangen, und er hätte sich mit Mädchen getroffen und versucht, ihnen an die Wäsche zu gehen, und wäre ganz normal gewesen. Nie wäre er so geworden, wie er jetzt war.
    Gideon verdiente das Gleiche, was andere hatten und für selbstverständlich hielten, sagte sich Libby. Er verdiente Freunde. Er verdiente eine Familie. Er verdiente ein eigenes Leben. Aber das alles würde er nicht bekommen, solange er unter Richards Fuchtel stand und niemand bereit war, etwas zu unternehmen, um die Beziehung zwischen Gideon und seinem beschissenen Vater zu verändern.
    Libby fuhr in die Höhe. Sie merkte, dass sie auf einmal ganz kribbelig war. Sie lehnte den Kopf gegen den Küchenschrank, um hinauf auf den Tisch sehen zu können. Dort hatte sie Gideons Schlüssel hingeworfen, als sie, ihrer Gier nach einem weißen Nahrungsmittel nachgebend, zum Kühlschrank gestürzt war, und es schien ihr jetzt wie eine Vorsehung zu sein, dass sie die Schlüssel hatte, ein Zeichen Gottes, das gesandt worden war, Gideons Leben zu verändern.
    Sie stand auf, trat an den Tisch und nahm die Schlüssel, ehe sie es sich wieder anders überlegen konnte. Dann verließ sie die Wohnung.

22
    Yasmin schickte Daniel mit einem Schokoladenkuchen in die Kaserne hinüber. Er war erstaunt, denn seine Mutter schimpfte sonst immer, wenn er bei den Soldaten herumhing, aber er sagte nur:
    »Hey, klasse, Mama«, lachte sie an und flitzte schon davon, um den »Dankbesuch« zu machen, den sie vorgeschlagen hatte. »Es ist doch nett von den Typen, dass sie dich immer wieder mal zum Essen einladen«, hatte sie zu ihrem Sohn gesagt, und wenn Daniel der Widerspruch zwischen dieser Bemerkung und ihrer früheren Einstellung den Soldaten gegenüber auffiel, so verlor er kein Wort darüber.
    Als Yasmin allein war, setzte sie sich vor den Fernseher. Sie hatte den Lammeintopf vorbereitet. Sie brachte es auch jetzt noch nicht fertig, ein einmal gegebenes Versprechen zu brechen, arme Irre, die sie war. Jetzt genauso wenig wie zu Roger Edwards' Zeiten konnte sie plötzlich ihre Meinung ändern oder einen Schlussstrich ziehen.
    Warum ist das so?, fragte sie sich in diesem Moment, aber diese innere Leere, die sie empfand, und das Aufkeimen einer

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