11 - Nie sollst Du vergessen
Lebensabend interessiert waren.
Hinter sich hörte sie die Summ- und Pieptöne von Eugenie Davies' erwachendem Computer. Sie stand auf und ging zum Aktenschrank, und Lynley nutzte die Gelegenheit, um es sich in dem Sessel bequem zu machen, den sie ihm überlassen hatte. Während er ihn zum Computer drehte, öffnete Barbara die oberste Schublade des Aktenschranks, der nicht abgeschlossen war, und begann, die Hefter durchzusehen. Sie fand vor allem Korrespondenz mit anderen Seniorenorganisationen in Großbritannien, jedoch auch Unterlagen des staatlichen Gesundheitsdiensts, eines Reise- und Studienprogramms, über diverse Altersleiden wie Alzheimerkrankheit und Osteoporose und über Rechtsfragen bei Erbangelegenheiten und die Einrichtung von Treuhandfonds und Geldanlagen. In einer Mappe lagen Briefe erwachsener Kinder von Klubmitgliedern, größtenteils Dankesbriefe, in denen gewürdigt wurde, was der Verein dazu getan hatte, Mutters oder Vaters Lebensfreude wieder zu wecken. Ein paar Schreiber waren nicht so ganz einverstanden mit der Verbundenheit der Mutter oder des Vaters mit einer Organisation, die mit der Familie nichts zu tun hatte. Die Briefe dieser Gruppe nahm Barbara heraus und legte sie auf den Tisch. Möglicherweise hatte Mamas oder Papas plötzliche Zuneigung zur Leiterin des Klubs einen Angehörigen beunruhigt; man konnte schließlich nie wissen, wohin solche Anhänglichkeit führte. Sie sah die Briefe noch einmal durch, um sich zu vergewissern, dass keiner mit Wiley unterschrieben war, und fand nichts. Aber das hieß natürlich nicht, dass der Major nicht eine verheiratete Tochter hatte, die an Eugenie geschrieben hatte.
Eine der Mappen war besonders interessant. Sie enthielt zahlreiche Fotografien, die bei Klubveranstaltungen aufgenommen worden waren. Major Wiley war häufig auf diesen Fotos zu finden und meist in Gesellschaft einer Frau, die entweder seinen Arm eisern umklammert hielt oder ihm fast die Gurgel abdrückte oder auf seinem Schoß saß. Georgia Ramsbottom. Der liebe Teddy! Aha, dachte Barbara. Sie sagte: »Inspector«, und im selben Moment sagte Lynley: »Ich glaube, hier haben wir etwas, Havers.«
Mit den Fotos in der Hand trat sie zum Computer. Lynley hatte sich ins Internet eingeloggt und Eugenie Davies' E-Mail auf den Bildschirm geholt.
»Hatte sie kein Passwort?«, fragte Barbara, als sie ihm die Bilder reichte.
»Doch«, antwortete Lynley. »Aber es war leicht zu erraten.«
»Der Name eines der Kinder?«
»Sonia«, sagte er, und gleich darauf: »Ach, verdammt!«
»Was ist denn?«
»Hier ist nichts.«
»Dabei wäre uns doch ein Drohbrief so gelegen gekommen. Schade.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Lynley, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. »Hier ist überhaupt nichts. Wissen Sie, wie man E-Mails zurückverfolgt? Ist es möglich, dass irgendwo alte E-Mails versteckt sind?«
»Das fragen Sie mich? Wo ich mich gerade erst ans Handy gewöhnt habe?«
»Wir müssen sie finden, wenn welche da sind.«
»Dann müssen wir den Computer mitnehmen«, sagte Barbara.
»In London macht uns das bestimmt jemand im Handumdrehen.«
»Ja, bestimmt«, stimmte Lynley zu. Er sah die Fotos durch, die sie ihm in die Hand gedrückt hatte, aber er wirkte zerstreut.
»Georgia Ramsbottom und der liebe Teddy waren anscheinend eine Zeit lang ein Paar«, sagte Barbara.
»Sechzigjährige Frauen, die sich gegenseitig totfahren?«, erkundigte sich Lynley.
»Warum nicht?«, meinte Barbara. »Es würde mich interessieren, ob ihr Wagen eine Delle hat.«
»Irgendwie bezweifle ich das«, sagte Lynley.
»Aber wir sollten nachsehen. Ich finde, wir dürfen nicht -«
»Ja, ja, wir überprüfen es. Der Wagen steht bestimmt auf dem Parkplatz.« Aber sein Ton war desinteressiert, und es gefiel Barbara gar nicht, wie er die Fotos, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken, aus der Hand legte und sich entschlossen wieder dem Computer zuwandte. Er loggte sich aus, schaltete das Gerät ab und ging daran, die Stecker herauszuziehen. »Wir werden Mrs. Davies' Spur im Internet verfolgen«, sagte er. »Kein Mensch geht online, ohne Fußstapfen zu hinterlassen.«
»Sahnehöschen.« Chief Inspector Eric Leach verzog keine Miene. Er war seit sechsundzwanzig Jahren bei der Polizei und wusste längst, dass man in diesem Metier ein gewaltiger Dummkopf sein musste, um sich einzubilden, man hätte alles gehört und gesehen, was die lieben Mitmenschen an Abartigkeiten zu bieten hatten. Dennoch - das hier war ein
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