110 - Zombies im Orient-Express
Neonbeleuchtungen der Geschäfte waren
eingeschaltet. Ein farbenprächtiges Bild breitete sich neun Stockwerke unter
ihr aus. Aber sie nahm es nur beiläufig wahr. Ob Alex sich noch im Schloss des
Earls aufhielt? Viel leicht war er an jenem Tag noch mal hinausgefahren und ...
Da fiel ihr ein, dass es in ihren Überlegungen einen Haken gab. Drunten vor dem
Haus, der Bentley... Wenn sie sich weit genug vorbeugte, konnte sie ihn von
hier oben sehen. Alex Haith war demnach nicht mit dem Wagen gefahren ... Dann
hatte ihn jemand abgeholt! Vielleicht ein Kollege, mit dem er den Fall
Gainsbourgh besprochen hatte und ...
Abrupt
brachen ihre Gedanken ab, als sie vor der Wohnungstür ein Geräusch vernahm.
Draußen stand jemand und steckte einen Schlüssel ins Schloss!
●
Alex! Er kam
zurück. Ruths Herz begann schneller zu schlagen. Im ersten Moment wollte sie
ihm entgegeneilen, aber dann entsann sie sich wieder, dass sie ursprünglich
vorhatte den Freund mit ihrer Ankunft zu überraschen. Auf Zehenspitzen huschte
sie in den Raum zurück und verbarg sich hinter dem Vorsprung eines Wandschrankes.
Der Schatten zwischen Wand- und Schrankvorsprung deckte sie völlig ab, und wenn
jemand nicht wusste, dass sie sich hier verbarg, fiel dies beim Betreten des
Zimmers nicht auf. Die Schritte klangen schwerfällig. Ruth Shefton hielt den
Atem an. Dann tauchte der Schatten der Gestalt auf. Ein großer, dunkelhaariger
Mann stand in der Tür. Alex Haith ...
●
Er drehte der
Beobachterin das Profil zu, und sie konnte ihn genau sehen. Haith schien gar
nicht überrascht, dass im ganzen Apartment Licht brannte. Entweder war ihm
entfallen, dass er es gelöscht hatte, als er die Wohnung verließ, oder er
glaubte, sämtliche Lampen beim Weggang eingeschaltet zu haben. Haith ging zu
seinem Schreibtisch. Dabei fiel Ruth Shefton auf, dass mit den Bewegungen ihres
Freundes etwas nicht stimmte. Alex bewegte sich seltsam mechanisch, ungelenk,
fast roboterhaft. Auch sein Blick war starr auf einen Punkt gerichtet. Ruth
Shefton schluckte, ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam aus ihrem
Mund. Eisige Kälte durchströmte ihre Adern, und sie merkte, dass ihre Kopfhaut
sich wie unter einem Eisbeutel zusammenzog. Hier stimmt etwas nicht! Alex zog
die obere Schublade des Schreibtisches auf und entnahm ihr eine dickbauchige
Ledermappe, die mit einem Kombinationsschloss versehen war. Mit zwei, drei
schnellen Griffen war es geöffnet. Ruth Shefton konnte beobachten dass Alex
einige persönliche Papiere herausnahm. Sie sah, wie er seinen Reisepass in der
Brusttasche seines Jacketts verstaute. Dann wandte er sich schnell ab.
„Alex?!“, sagte die heimliche Beobachterin im gleichen Augenblick. Gleichzeitig
trat sie aus ihrem Versteck hervor. Alex Haith reagierte überhaupt nicht. Er
setzte seinen Weg zur Tür fort. „Alex?!", rief Ruth lauter und lief hinter
dem Mann her, der sich mit schlurfenden Schritten entfernte. Sie fasste ihn an
der Schulter, um ihn festzuhalten. Er verhielt sich wie ein Roboter und schien
ihre Hand gar nicht zu bemerken. Da packte sie ihn am Arm und riss ihn herum.
„Alex, um Himmels willen! Was ist denn bloß los mit dir?“, stieß sie hervor und
starrte in sein abweisendes, blasses Gesicht. Seine Augen waren matt und
glanzlos, das Haar zerzaust. Seine Kleidung roch muffig, als hätte er die
letzten Stunden in einem kühlen und feuchten Verlies verbracht. Er sah sie an
... nein, er schaute durch sie hindurch. Seine Haut war wächsern und sah aus
der Nähe aus wie zerknittertes Pergament. Alex Haith wirkte älter, als sie ihn
kannte. Er riss sich von ihr los und setzte seinen Weg zur Wohnungstür fort.
Zwei-, dreimal noch versuchte die Frau, den Arzt festzuhalten. Vergebens! Alex
Haith sah und hörte sie nicht. Er schien nur auf eine bestimmte Handlung
programmiert zu sein, die er ohne Nachdenken ausführte. Alex Haith war kein
Mensch mehr, sondern eine willenlose Marionette, die von einem Geheimnisvollen
benutzt wurde. Ruth Shefton war eine Frau, die stets wusste, was sie wollte,
die mit beiden Beinen im Leben stand und sich auch von ungewöhnlichen
Ereignissen nicht so leicht umwerfen ließ. Obwohl das, was ihr hier zustieß,
genug war, um sie aus der Fassung zu bringen.
Hinter Alex
Haith schloss sich die Lifttür, und die Aufzugskabine setzte sich in Bewegung.
Ruth Shefton hätte noch genügend Zeit gehabt, auf den Knopf zu drücken und
ebenfalls in den Lift einzusteigen. Doch ihre Furcht, in dem engen,
Weitere Kostenlose Bücher