1100 - Die Hölle von Sodom
benötigte er auch. Etwas Wasser und Proviant hatte er mit an Bord nehmen können. So hatte er nicht nur Hunger leiden müssen. Das Versteck hatte er während der Fahrt nicht verlassen. Er wollte nicht entdeckt werden, denn Baker traute keinem.
Jetzt hatten sie nach zwei Zwischenstopps London erreicht. Endlich in der Heimat, und endlich konnte er mit seinem Wissen etwas anfangen. Es war einfach unglaublich. Baker gehörte zu den Menschen, die sich in der ganzen Welt auskannten. Er war Spezialist für die ungewöhnlichen Reportagen, die gerade jetzt, wo sich das Jahrtausend dem Ende zuneigte, immer mehr gebraucht wurden. Die Leser suchten nach ungewöhnlichen Dingen, nach Berichten, die ihnen einen Schauer über den Rücken laufen ließen, und zudem nach Reportagen, die der Wahrheit entsprachen.
Dafür war Baker zuständig.
Er hatte viele Wahrheiten herausgefunden. Er wußte genau, wo man den Hebel ansetzen mußte. Er war nie jemand gewesen, der sich zu erkennen gegeben oder lange gefackelt hatte. Immer inkognito, immer dann zuschlagen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. So und nicht anders hatte er es stets gehalten.
Er hockte auf dem schmutzigen Boden. Er fühlte sich selbst dreckig und elend. Auch er hatte seine Notdurft nicht über die Tage hinweg anhalten können, aber daran wollte er nicht denken. London hatte ihn wieder, und er würde sich jetzt zeigen.
Der Frachter wurde entladen. Baker hörte es an den Geräuschen. Möglicherweise befanden sich noch die Beamten vom Zoll an Bord. Das war bei Schiffen aus dem Balkanraum oft nötig, denn es wurde auch viel Rauschgift geschmuggelt.
Mit müden, schlurfenden Schritten bewegte sich James Baker durch den Laderaum. Er war leer. Er war hoch. Er war kalt und trotzdem warm. Er kam ihm vor wie eine Extrahölle im Bauch des Schiffes.
Seine Beine waren schwer. Für einen Moment zögerte er, als er vor der Leiter stand. Mit der Batterie seiner Lampe war er sparsam umgegangen. So hatte das Licht noch genügend Kraft, an den Sprossen hoch bis zum Ende zu leuchten.
Der Ausstieg dort oben war geschlossen. Baker wußte auch nicht, wie er ihn öffnen sollte. Allein schaffte er das bestimmt nicht, aber er würde sich schon bemerkbar machen. Seine Stimme war kräftig genug. Irgendwer würde seine Schreie aus dem Bauch des Schiffes schon hören und die entsprechenden Schlüsse ziehen.
So weit kam es nicht.
Die Decke über ihm öffnete sich. Sie schob sich zur Seite. Es ging automatisch, und Baker hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt, um nach oben zu schauen.
Tageslicht flutete durch die Öffnung in den Bauch des Schiffes. Seine Rechnung war aufgegangen.
Er hatte stark gehofft, nicht in der Nacht in London einzutreffen, und diese Hoffnung war erfüllt worden. Der Blick in den Himmel über London war wie ein erfüllter Traum. Baker konnte den Jubelruf einfach nicht unterdrücken. Es sollte ein Schrei werden, doch die Kraft besaß er leider nicht.
So drang mehr ein Krächzen aus seinem Mund.
Aber er wurde entdeckt. Damit erfüllte sich seine zweite Hoffnung. Plötzlich tauchten zwei Männer am Rand der Luke auf. Sie spähten hinein und wollten sich abwenden, als sie den winkenden Mann sahen. Im ersten Augenblick wirkten sie wie vom Blitzstrahl getroffen, dann aber geriet Bewegung in die beiden. Sie liefen weg. Sie holten den Kapitän, und der wurde von zwei englischen Zöllnern begleitet, die den blinden Passagier ebenfalls sahen.
James Baker konnte nicht anders. Er wollte nicht reden, er konnte nur noch lachen. Sein Gelächter hallte den Männern über ihm entgegen. Es war wild, es war für ihn die Erlösung, und er spürte sogar Tränen über sein Gesicht laufen.
Daß man ihn herausholte, das erlebte er nur am Rande. Richtig zu sich kam er erst wieder, als er in einem Büro beim Zoll saß und vor ihm ein Mann stand, der einen gezwirbelten Schnurrbart trug.
»So etwas hatten wir lange nicht mehr. Einen blinden Passagier. Ich dachte immer, die wären ausgestorben.«
»Nein, das nicht. Manchmal ist es wirklich besser, wenn man auf diese ungewöhnliche Art und Weise fährt.«
»Wer sind Sie?«
Baker kramte seine Papiere unter dem schmutzigen Hemd hervor. »Bevor Sie einen Blick darauf werfen, Sir, hätte ich gern etwas zu trinken. Ich glaube, ich bin vertrocknet. Und ich möchte Sie bitten, dem Kapitän des Schiffes nichts mitzuteilen, was mich persönlich angeht. Sie wissen einfach von nichts - ja?«
»Das müssen Sie schon mir überlassen.«
»Es ist
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