1105 - Glendas Totenhemd
Streicheln, ein sich Hingeben, und der seltsame Stoff schien unter ihren streichelnden Händen zu zerfließen.
Hinzu kam die Wärme, die sich nicht mehr aufhalten ließ. Sie strömte nicht nur durch das Material, sie verteilte sich auch auf Isabellas Körper und hinterließ auf der Haut einen wohligen Schauer. Er tat ihr so gut. Sie fühlte sich wohl, und hätte ihren Zustand mit einigen Worten kaum beschreiben können.
Mit beiden Beinen stand die Frau auf dem Boden. Trotzdem überkam sie der Eindruck, so leicht zu sein, daß es nur einer geringen Mühe bedürfte, einfach abzuheben.
Sie hörte nicht auf, das Kleid zu streicheln. Das Material weichte immer mehr auf und preßte sich gegen ihren nackten Körper. So war es immer gewesen, so würde es auch bleiben. Ebenso wie die Stimmen, die sie plötzlich erreichten.
»Komm zu uns… komm zu uns…«
Sie lockten. Sie waren wunderbar. Sie bestanden aus Worten, die sich zu einem Gesang zusammenfügten. Es war wie ein Sturmwind, der sie erfaßt hatte, aber noch nicht von den Beinen riß. Isabella erlebte ihre Umgebung so wie sie tatsächlich war, und nach einer kurzen Drehung schaute sie wieder in den Spiegel.
Ja, sie sah wunderbar aus. Beinahe sogar so schön wie damals. Das Kleid saß jetzt wie eine zweite Haut. Der Ausschnitt malte perfekt die Rundungen ihrer Brüste nach, und über den Schultern hingen die beiden Träger wie Spaghetti.
Sie fühlte sich jetzt entspannt und so unwahrscheinlich geborgen. Jeder Feind der Welt hätte kommen können, sie hätte sich nicht vor ihm gefürchtet.
Allmählich verstärkten sich die anderen Kräfte in ihrem Innern, aber auch außen nahmen sie zu, was einzig und allein mit dem Kleid zu tun hatte. Es war keine Hitze, die sie quälte oder verbrennen wollte wie bei ihrer Kundin, nein, hier passierte etwas völlig anderes. Das Kleid und sie vermischten sich zu einer Persönlichkeit. Es gab keine Unterschiede mehr.
Sie lächelte und trat noch näher an den Spiegel heran. Es war eine gute Zeit für sie gewesen, daß sie gerade jetzt das Kleid übergestreift hatte, denn die andere Welt war für sie bereit und drängte immer stärker. Der Vergleich mit einem Totenhemd kam ihr nicht mehr in den Sinn. Isabella war einfach gefangen, und sie liebte es, sich noch stärker hinzugeben.
Die Stimmen lachten jetzt. Sie jubilierten, und die Frau antwortete ihnen.
»Ja, ich komme zu euch. Ich bin bereit. Bitte… bitte… holt mich in euer Reich…«
Noch schaute sich Isabella im Spiegel an, doch das Bild verschwamm allmählich. Es trübte ein. Sie hatte das Gefühl, der Fläche entgegenzuschwimmen. Die Füße standen noch auf dem Boden, aber nicht so richtig. Der Widerstand war verschwunden. Auf ihre Haut hatte sich das Kleid wie eine Schicht gelegt, und wenig später sah sie das kleine Zimmer, das sich allmählich auflöste. Die Wände bewegten sich. Sie zogen sich zusammen, sie wurden weich, sie traten in den Hintergrund. Eine andere Macht hatte die Kontrolle übernommen, und Isabella trat dieser Macht mit dem ersten Schritt entgegen und dabei hinein in die neue und andere Welt…
***
Es dunkelte leicht, als wir unser Ziel erreichten und zunächst wieder mal Probleme mit dem Parken bekamen.
Lücken waren in dieser Gegend nicht zu entdecken. Ein Wirrwarr aus kleinen und schmalen Straßen breitete sich hier aus, und wir wollten zur Deal Street.
Glenda regte sich auf und sprach davon, daß wir besser mit der U-Bahn gefahren wären.
»Das ist jetzt auch nicht mehr zu ändern.«
Ich fand noch eine freie Stelle. Ausgerechnet vor einer Einfahrt und nicht einmal weit von unserem Ziel entfernt. Glenda schaute mich mit großen Augen an, als ich den Motor ausstellte. »Na, du hast vielleicht Mut.«
»Da wird schon niemand hineinfahren wollen. Und wenn, dann haben wir Pech gehabt.«
»Was ist, wenn jemand raus will?«
»Hat er Pech gehabt.«
Als wir ausstiegen, sah ich unser Unglück auf zwei Beinen schon kommen. Neben der Einfahrt hatte es in Form eines älteren Mannes am Fenster gelauert, und dieser Aufpasser stand plötzlich im Freien. Gestikulierend kam er auf uns zu, das Gesicht ebenso rot wie seine Hosenträger.
»Was erlauben Sie sich eigentlich? Hier können Sie nicht parken! Sind Sie blind?«
»Pardon, aber müssen Sie raus?«
»Nein.«
»Dann möchte ich Sie um etwas bitten.«
Der Mann war sprachlos, so nett angesprochen zu werden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu nicken. Ich zeigte ihm meinen Ausweis, den er auch
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