1108 - Leichengasse 13
kam ich nicht heran. Jetzt muß ich die Welt mit anderen Augen sehen und…«
Der schrille Frauenschrei unterbrach seine Worte. Es war etwas passiert, und wir sahen im nächsten Augenblick, wie sich der offene Gully weiter vor uns aufzublähen schien. Schwarzer Dampf wölkte hervor. Er war nur der Vorbote.
Was folgte, war der alte Götze!
***
Auch wenn er mein Feind war, mußte ich schon von einem imponierenden Anblick sprechen. Was sich da aus der Tiefe nach oben drückte, war schon ein gewaltiges Gebilde oder ein monströses Etwas. Die Pflastersteine an den Rändern des Gullys lösten sich. Sie kanteten in die Höhe, sie knickten beinahe um, und so hatte das Ding genügend Platz, sich ins Freie zu schieben.
Es war die Masse.
Es war sie in all ihrer dunklen Scheußlichkeit. In einem düsteren Grün und mit all den Fratzen der Opfer versehen, die das Monstrum im Laufe der langen Zeit zu sich geholt hatte.
Der große Körper bildete eine Masse, die birnenförmig aussah. Da war der Kopf nicht so breit wie der Körper, aber trotzdem kam er mir noch riesig vor.
Unten breit, nach oben lief er spitzer zu. Im unteren Teil malte sich das Maul wie ein auf dem Rücken liegender Halbmond ab. Ebenfalls in die Breite gezerrt, als wollte sie das gesamte Gesicht bedecken oder von Ohr zu Ohr grinsen, wobei sich am Schädel keine Ohren abzeichneten. Der Götze besaß weder Arme noch Beine, nur eben den gewaltigen Körper, der sich aus dem Gullyloch gedrückt hatte.
Er hockte noch auf dem offenen Kreis, aber er glitt nicht mehr hinein. Die Opfer in seinem Innern zuckten. So nahmen die dunklen Fratzen bei jeder Bewegung ein anderes Aussehen an, aber sie sahen dabei nicht besser aus.
»Er will den Kampf«, sagte Chris Iron.
»Ja.«
»Und ich will ihn auch.«
Ich schätzte die Höhe des Götzen ab. Verdammt, er reichte schon bis zur ersten Etage hoch. Das war ein Brocken. Deshalb wollte ich Chris nicht allein lassen.
»Wir gehen gemeinsam.«
»Es ist meine Rache«, sagte er. »Du hast mir schon viel geholfen, John Sinclair.«
»Wieso?«
»Durch das Kreuz.«
Ich begriff nicht, was er damit gemeint hatte. Es lag noch immer offen auf meiner Hand. Das hatte auch Chris Iron gesehen, und er tat etwas, das mich überraschte.
Seine Hand schwebte über dem Kreuz. Ich rechnete damit, daß er es an sich nehmen wollte, doch ich hatte mich geirrt, denn er hatte etwas anderes damit vor.
Der ausgestreckte Zeigefinger tippte genau auf die Stelle des Kreuzes, in die das U für Uriel eingraviert worden war. Iron gehörte zur Heerschar des Engels. Wie sehr er damit verbunden war, erlebte ich in den folgenden Augenblicken.
Die Fingerkuppe hatte den Buchstaben kaum berührt, da begann bei ihr die Veränderung. Sie glühte auf. Wie Eisen, das erhitzt wurde, um daraus Stahl herzustellen. Die dunkelrote Glut blieb nicht auf die Fingerspitze beschränkt. Wie von einer anderen Kraft geführt, wanderte sie weiter. Zuerst in die Hand hinein und dann in den Arm.
Ich hatte mich in all den Jahren an mein Kreuz gewöhnen können. Ich kannte seine Herkunft, ich kannte seine Funktion und war mir eigentlich sicher gewesen, keine Überraschungen mehr zu erleben.
Das war nun vorbei.
Ich muß wohl ziemlich dumm ausgesehen haben, als ich meinen Talisman anstarrte und auch den Blick an Chris hochgleiten ließ, der noch immer den Kontakt mit dem U auf dem Kreuz hielt.
Er glühte.
Nicht mehr nur am Arm. Die Glut hatte auch sein Gesicht erfaßt und es mit ihrem dunkelroten Schein zu einem Fremdkörper für mich gemacht. Es war eine Kraft, die sich nicht mehr aufhalten ließ. Sie wanderte weit durch seinen Körper. Dabei erfaßte sie die Brust, danach die Arme, und zum Schluß drang sie auch in die Beine ein.
Chris war zu einem glühenden Engel geworden, der trotzdem nicht verbrannte, sondern mit dieser neuen Kraft weiterlebte und sich auch stark fühlte.
Er zog die Hand erst zurück, als ihn die Glut vom Kopf bis zu den Zehenspitzen erfüllt hatte. Als er seinen Mund öffnete, um zu sprechen, da sah ich, daß er auch innerlich glühte und trotzdem nicht ausbrannte.
»Jetzt habe ich seine Stärke«, sagte er mir. »Ich danke dir, Sohn des Lichts!«
Ziemlich perplex ließ er mich zurück. Ich schaute das Kreuz an, aber es strahlte nicht auf. Chris schien ihm die gesamte Energie genommen zu haben.
Mir präsentierte er seinen Rücken. Er hatte sich bereits einige Meter von mir entfernt und schritt seinem Ziel entgegen. Ich wollte ihm folgen, denn durch
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