1108 - Leichengasse 13
Ich rechnete mit einem Angriff des alten Götzen, doch er hielt sich zurück. Ich betete, daß es noch eine Weile anhalten würde.
In der Leichengasse war es still. Keine Geräusche, keine Schreie, keine Stimme mehr. Eine bedrückende Ruhe hatte sich zwischen den Hauswänden ausgebreitet.
Man tat uns nichts.
Wir passierten den ersten Gully. Noch immer drang die Masse daraus hervor. Nur nicht mehr so stark. Hinter einem Fenster bewegte sich ein Mensch. Er ging auf und ab wie ein Roboter, der nicht abgestellt worden war.
Der alte Götze war auch in die Häuser eingedrungen. Was er dort an Material zerstört hatte, war für uns nicht zu sehen. Aber die zu Bruch gegangenen Scheiben lagen als große Splitter auf der grünen Schleimschicht.
Fay Waldon ließ sich führen wie ein kleines Kind. Sie stellte auch keine Fragen, sie schaute mich nicht einmal an. Ihr Blick war stets nach vorn gerichtet, wo sich schon das Ende der Leichengasse abzeichnete.
Sollte wirklich alles so einfach sein?
Ich konnte und wollte es nicht glauben. In meinem Leben hatte ich die Erfahrung gemacht, daß der dicke Hammer immer wieder nachkam, und auch hier würde es so sein. Zumindest zog ich es in Betracht.
Wir kamen an ihrem Haus vorbei.
Da wachte Fay auf.
Der Gegendruck bewies mir, daß sie nicht mehr weitergehen wollte. Sie drehte den Kopf nach links, und sie schaute auch hoch zur ersten Etage, wo noch immer die beiden Gestalten quer über der Fensterbank liegend nach draußen hingen.
»Was hast du?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum willst du es nicht sagen?«
Plötzlich schaute sie mich an und fragte: »Wo ist Chris?«
Das wiederum überraschte mich. »Moment mal«, sagte ich leise, »du kennst ihn?«
»Ja.«
»Er wohnt hier, nicht?«
»Nein.«
»Ist er dein Freund?«
Fay war wieder voll da. Die Macht des Götzen hatte den Einfluß verloren. »Ich weiß nicht, ob ich ihn als meinen Freund betrachten kann. Er ist mein Beschützer.«
Das war mir neu. »Irrst du dich auch nicht, Fay?«
»Nein, ich irre mich nicht. Er ist wirklich mein Beschützer und bleibt an meiner Seite.«
»Aber er hat dich doch nicht beschützen können. Das weiß ich. Der Götze ist schneller gewesen.«
»Chris ist kein Mensch.«
Die nächste Überraschung. »Kannst du mir erklären, wer er dann ist?«
Sie zuckte die Achseln, und ihr Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an. »Ich habe ihn in meinen Träumen erlebt. Er ist mein persönlicher Schutzgeist. Er kommt nicht von hier. Nicht von dieser Welt…«, sie deutete zum Himmel. »Dort oben. Irgendwo zwischen den Sternen in einer Ferne, die für uns nicht erreichbar ist. Ich habe ihn in den Träumen erlebt, und er hat mir versprochen, daß er zu mir kommt. Er hat sein Versprechen gehalten, John. Er ist da, und du hast ihn auch gesehen, das weiß ich.«
Ich wußte nicht, was ich von diesen Worten zu halten hatte. »Ja, das ist möglich. Es stimmt sogar, wir haben uns getroffen. Aber Chris ist nicht mehr da. Er ging einfach weg. Er ließ mich allein. Beim erstenmal habe ich ihn in den Gully tauchen sehen. Nicht freiwillig, denn der alte Götze hat ihn zu sich geholt.«
»Er wollte es so, glaube mir.«
Ich räusperte mich. »Dann hätte er sich auch dagegen wehren können, meinst du?«
»Ja, ich vertraue ihm.«
»Aber warum hat er das hier alles zugelassen, wenn er so mächtig ist? Es kann Tote gegeben haben, und auch du hast nur mit Glück überlebt, wobei ich nicht einmal weiß, wo du gewesen bist.«
»Ich war bei ihm. Ich steckte im Körper des Götzen. Er hat mich tief in sich hineingesaugt. Ich sollte von ihm verschlungen werden und zu den anderen gelangen. Aber dann kam er.«
»Chris?«
»Wer sonst.«
»Und wie hat er es geschafft, dich zu befreien? Oder bist du noch nicht befreit?«
»Ich liebe ihn«, sagte sie. »Er ist mein Traummann, und er ist mir auch im Traum erschienen. Er hat mich angelächelt und seinen Körper als Schutz über mich ausgebreitet. Deshalb ist er für mich ein Engel, den mir der Himmel geschickt hat. Ich kann mich nicht immer gegen die Kraft des alten Götzen wehren. Manchmal schon, und das hast du ja auch gesehen, John.« Ihr Gesicht erhielt einen nahezu verklärten Ausdruck. Wie bei einem Menschen, der voll innerer Freude steckt. »Begreife es, John. Begreife es endlich. Ich brauche mich nicht vor dem Tod zu fürchten, denn ich habe einen Beschützer.«
So richtig konnte ich die Worte nicht nachvollziehen. Nichts gegen einen Beschützer. Jeder Mensch
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