1108 - Leichengasse 13
Zeit versickert. Doch es gibt Kräfte, die sich daran erinnert haben. Der alte Götze ebenso wie ich. Ich muß das vollenden, was mir damals nicht gelungen ist. Aber in dieser Nacht, wo er glaubt, alles im Griff zu haben, werde ich ihn vernichten. Deshalb kam ich, deshalb bin ich heute angetreten, John. Auch ich habe lernen und mich vorbereiten müssen. So erfuhr ich, daß er sich Fay als Helferin ausgesucht hat. Durch sie gelangte er hierher. Durch sie öffnete er das Tor, doch ich werde es wieder schließen und seine Spuren löschen.«
»Du hättest es schon vorher tun sollen«, hielt ich ihm vor. »Es sind Menschen gestorben.«
»Das weiß ich. Es tut mir auch leid. Doch manchmal kann man nicht verhindern, daß es Tote gibt, und ich weiß auch nicht, ob ich den Kampf überlebe.«
»Dann werde ich dir helfen.«
»Nein!« wehrte er ab. »Du bist ein Mensch. Laß es gut sein. Du hast ihn schon genügend beunruhigt. Er greift dich nicht direkt an, weil ihn etwas zurückschreckt. Du mußt was an dir haben, das ihm nicht so gefallen kann.«
Ich konnte mir denken, was er meinte, und gab ihm den Weg frei. Chris Iron verstand die Geste.
Ohne der in der Nähe stehenden Fay Waldon noch einen Blick zu gönnen, ging er vor und drehte uns seinen schillernden Rücken zu.
Fay faßte mich mit beiden Händen am Arm an. »Na, habe ich es dir nicht gesagt, John? Ist er nicht wunderbar? Er wird den Götzen besiegen. Das spüre ich tief in mir. Diese Straße wird wieder normal werden und keine Leichengasse mehr sein.«
Ich löste mich aus ihrem Griff. »Ja, das hoffe ich auch.«
»Wo willst du hin?« rief sie mir nach, als sie sah, daß ich sie stehen ließ.
»Ich möchte bei deinem Freund bleiben.«
»Aber du bist ein Mensch.«
»Gerade deshalb.«
Ob mein Handeln richtig war, stand in den Sternen. Jedenfalls wollte ich nicht alles diesem Chris Iron überlassen, denn ich war gekommen, um das Rätsel der Leichengasse zu lösen.
Es hatte sich etwas verändert. Der Schleim lag nicht mehr auf dem Boden. Er hatte sich zurückgezogen und war sicherlich in die Gullys gesickert. Es bedeutete nicht, daß auch der Götze aufgegeben hatte.
»Warum bist du bei mir?«
»Er gehört auch mir.«
Chris Iron schüttelte den Kopf. »Nein, meine alte Abrechnung hat Vorrang.«
Ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Deshalb schwieg ich, blieb allerdings an seiner Seite. Gemeinsam erreichten wir den ersten Gully. Vor ihm blieb Chris Iron stehen. Wie auch ich senkte er den Kopf und blickte in die Tiefe.
Es war einfach zu dunkel, um etwas sehen zu können, aber Chris Iron, dessen Körper tatsächlich wie poliertes Eisen glänzte, deutete nach unten.
»Er ist da!«
»Und weiter?«
»Er wird auch kommen, er sammelt sich.«
»Wird er die Gasse hier überschwemmen?«
»Nein, nicht mehr. Er wird sich auf den Kampf gegen mich konzentrieren. Das ist ihm wichtiger. Er glaubt, gewinnen zu können. Erst wenn ich aus dem Weg geräumt bin, wird er es noch einmal versuchen.«
Ich mußte Chris die Worte glauben, doch ich hatte noch eine Frage: »Wie willst du ihn töten? Wo sind deine Waffen?«
»Ich brauche sie nicht.«
»Nein?«
»Ich bin die Waffe. Ich komme aus dem Feuer. Ich gehöre zur Mannschaft des Uriel, dem Feuerengel, und meine Kraft wird ihn vernichten. Ich baue darauf.«
Die Überraschungen rissen nicht ab. Aber auch für ihn nicht, denn sehr schnell hatte ich das Kreuz aus der Tasche gezogen und flach auf meine linke Hand gelegt.
»Uriel«, sagte ich leise und deutete dabei auf den untersten Punkt des Kreuzes.
Die Metallaugen folgten dieser Geste.
»Du kannst es lesen?«
»Ja«, sagte Chris.
»Es ist ein U. Und das U steht für Uriel. Auch ich bin gewissermaßen unter seinem Schutz, wie auch unter dem der anderen drei Erzengel.«
Meine Worte hatten ihn erschüttert. Chris begann zu zittern, und er betrachtete mich mit anderen Augen. Zog aber bei seinen folgenden Worten die falschen Schlüsse.
»Dann gehörst du zu uns? Ich hätte es merken müssen. Mir fällt es auf, wenn einer zu uns gehört.«
»Nein, ich gehöre nicht dazu. Ich bin ein Mensch und kein Engel wie du.«
»Aber…«
»Kein aber. Du bist von Uriel geschickt worden. Ich habe eine andere Aufgabe als Sohn des Lichts.«
»Sohn des Lichts«, flüsterte er, »welch eine großartige Bezeichnung. Ich habe noch nichts davon gehört, aber ich freue mich, dich getroffen zu haben. Ich spürte schon, daß du anders bist als die meisten Menschen, doch an die Wahrheit
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