1108 - Leichengasse 13
Fay gesprochen haben.
Sie kannte kein anderes Ziel als mich. Ich streckte ihr nicht die Hand entgegen, obwohl ich das Bedürfnis verspürte. Ich wollte sie zunächst so nahe wie möglich an mich herankommen lassen.
Fay war nicht tot. Tote bewegen ihre Gesichter und auch ihre Augen nicht. Sie tat es, und es sah aus, als wollte sie mir nur einmal zuzwinkern.
Dann blieb sie stehen.
Auf ihrem Körper bewegten sich die Bemalungen. Die Fratze hatte ein gewisses Leben erhalten, und sie waren dafür geschaffen worden, eine Botschaft zu transportieren.
Ich hörte sie sprechen. Oder war sie es nicht? Sprach jemand anderer durch sie?
Jedenfalls klang die Stimme neutral und zugleich wispernd. »Es ist meine Rückkehr«, sagte die Stimme, wobei sich Fays Mund bewegte. »Die Rückkehr, auf die ich lange warten mußte. Ich habe sehr viel gelernt, denn ich konnte mir Zeit lassen. Ich bin jetzt bereit, wieder alles so einzurichten wie es früher gewesen ist…«
Ich hörte nicht auf die Stimme, weil mir Fay Waldon wichtiger war. Zwar drang die Stimme aus ihrem halb geöffneten Mund hervor, aber es war trotzdem nicht Fay die sprach, sondern eben die Person des alten Götzen.
»Fay!« drängte ich sie. »Verstehst du mich? Kannst du meine Worte aufnehmen?«
Sie schaute mich nur an.
»Bitte, gib Antwort!«
Auf ihrem Gesicht zeichnete sich eine große Qual ab. Fay bemühte sich darum, etwas sagen zu können. Dazu mußte sie erst den Einfluß des Götzen zurückdrängen oder überwinden.
»Hast du auf mich gewartet, John?«
Die Frage machte mich zwar nicht gerade happy, aber sie hinterließ schon ein Glücksgefühl bei mir.
Fay Waldon war nicht völlig beeinflußt worden. Es war noch etwas von ihr da, auch wenn sich die Augen so leer wie die einer Toten zeigten.
»Ja, das mußte ich doch. Ich bin so etwas wie dein Beschützer. Der Weg hat mich in dein Haus geführt.«
»Und zu ihm.«
»Vergiß ihn.«
»Nein, das kann ich nicht. Er ist überall.«
Ich lächelte, auch wenn es mir schwerfiel. »Aber ich lebe noch, und du lebst auch. Wir schaffen es gemeinsam, okay? Du mußt nur tun, was ich dir sage.«
Fay »trat« wieder weg. Sie schwankte. Dabei schien sie in ihre zweite Welt zu versinken. Ich überlegte verzweifelt, wie ich sie wieder in ihren alten Zustand zurückholen konnte. Leider fiel mir nichts ein. Mit Worten war das kaum zu schaffen.
Ich faßte sie an. Sehr vorsichtig griff ich nach ihrer Hand und hob sie zusammen mit dem Arm an.
Mein Blick traf dabei ihren Handrücken, und genau dort zeichnete sich die Fratze ab, wie von dicken Pinselstrichen gezeichnet. Es war ein dreieckiger Kopf mit einem breiten Maul. Ich zog die Frau zu mir heran. Sie brachte mir keinen Widerstand entgegen und fiel sogar in meine Arme. Die Umgebung hatten wir beide vergessen. Dicht an der Hauswand standen wir wie ein Liebespaar.
Mit der freien Hand streichelte ich an Fays Gesicht entlang. Ihre Lippen hatten sich dabei zu einem Lächeln verzogen, aber in den Augen stand noch immer die Leere.
»Ich bringe dich von hier weg, Fay. Der alte Götze darf dich nicht bekommen.«
»Er hat mich schon, John…«
»Nein, denk nicht so. Wir schaffen das. Du mußt mir nur vertrauen und versuchen, dich auf deine eigenen Kräfte zu besinnen. Du bist ein Mensch und kein Monster oder ein Götze. Du bist jemand, der an oberster Stelle der Schöpfungsgeschichte steht. Daran mußt du denken. Daraus kannst du Kraft schöpfen…«
Ich wußte nicht, ob ich die richtigen Worte gewählt hatte. Es war jedenfalls zu hoffen. Fay hatte sie auch verstanden. Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich. Die Pupillen wirkten mit einemmal nicht so leer, und meine Hoffnung wuchs.
Es war ja nicht weit bis zum Ende der Gasse. Wenn wir uns beeilten, würden wir den Weg in kurzer Zeit hinter uns gebracht haben. Ich wünschte mir inständig, daß dieser alte Götze keine magische Grenze gezogen hatte.
»Kommst du?«
»Wohin denn?«
Sie bekam von mir keine normale Antwort. Ich drehte Fay kurzerhand herum, damit sie schon in der entsprechenden Richtung stand. Dann legte ich ihr meine Hand gegen den Rücken und schob sie langsam vor.
Um nicht zu fallen, mußte sie einfach gehen, und sie schritt auch dahin.
Wir hatten uns von der Hauswand weggedrückt und bewegten uns in der Gassenmitte. Etwa bis zu den Knöcheln reichte der Teppich der Masse, durch den wir schritten. Es war auch mehr ein Waten, und meine Spannung steigerte sich mit jedem Schritt, den wir zurücklegten.
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