1108 - Leichengasse 13
veränderte sich, denn sie stieß plötzlich Worte aus. Kurz und heftig, so daß ich Mühe hatte, sie zu verstehen.
»Sie sind da. Die Schatten sind da, verdammt! Ich sehe sie, sie peinigen mich und…«
»Ja, ich weiß, Fay. Beruhige dich. Sie werden dir nichts tun, glaube mir das.«
»Nein, nein, ich weiß es besser. Sie haben sich bei mir gemeldet, verflucht.«
»Wie?«
»Hörst du sie?«
Es war eine Frage, die mich völlig überraschte, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Schatten, die zu hören waren? Die sich bemerkbar machen können?
»Was soll ich hören, Fay?«
»Stimmen, John. Es sind die Stimmen. Sie sind wieder da. Ich wußte es. Sie sind überall. Sie sind bei jedem von uns.«
Meine Gedanken irrten für einen Moment ab. Ich wurde an das Erscheinen eines anderen Schatten erinnert, der sich über den Mann mit den hochgekämmten Haaren hergemacht hatte. Dabei hatte ich auch keine normale Gestalt gesehen, sondern eben den Schatten, der sich als amorphes Etwas über ihn hergemacht hatte und zusammen mit dem Mann verschwunden war.
Aber wo waren die Stimmen? Noch hörte ich sie nicht. Am liebsten hätte ich Fay die Hand gegen den Mund gehalten, um ihre Laute zu ersticken. Dann konnte ich hören und…
Ich hörte sie auch so.
Kreischen, Lachen. Schrille Geräusche, wie sie Menschen kaum ausstießen und sie eher zu Wesen paßten, die aus fremden Welten stammten.
Ich schaute mich um.
Es war niemand da, trotz der Bewegungen im Zimmer. Sie aber malten sich von der Decke her ab, weil sich dort die Schatten wie die gezackten Flügel von Fledermäusen hin und her bewegten und eben diese fremden Muster schufen.
»Wir sind da… wir sind da…«
Das hörte sich an wie das Zirpen von zahlreichen Grillen. Es war ganz in meiner Nähe aufgeklungen, und ich mußte nur den Kopf ein wenig drehen.
Ja, ich sah sie.
Nicht mehr nur unter der Decke, sondern an einem anderen Ort, an dem ich sie nie vermutet hätte.
Auf den Armen und dem Körper der nackten Frau!
***
Schon zuvor waren mir die dunklen Stellen auf der Haut aufgefallen. Jetzt erst sah ich sie genauer, und ich erkannte, daß es keine Flecken waren, sondern Zeichnungen. Nein, das war auch nicht der richtige Begriff. Tätowierungen hätten besser gepaßt, doch auch das stimmte nicht. Es waren die Umrisse von Fratzen und Mäulern. Von seltsamen Tieren, die jemand auf die Haut der Frau gemalt hatte. Durch einen bestimmten Impuls, möglicherweise auch durch ein bestimmtes Erlebnis war dies in Bewegung gesetzt worden. Mit rechten Dingen ging es nicht zu. Diese Schatten lebten auf ihr und auf ihre unheimliche Art und Weise, und sie wurden von Kräften gelenkt, die mit der normalen menschlichen Logik nicht zu erklären waren.
Sie lebten und bewegten sich. Sie tanzten über die Haut hinweg. Sie hatten sich auf dem gesamten Körper verteilt und befanden sich in ständiger Bewegung.
Ich mußte davon ausgehen, daß ich hier mit lebenden Körpermalereien zu tun hatte, die unter einem gefährlichen Einfluß standen, der sich hier in der Gasse ausgebreitet hatte. Niemand wurde verschont, nur mich griffen die Schatten nicht an.
Sie folterten die Frau.
Sie schnappten nach ihr. Sie öffneten ihre Mäuler. Ich hörte immer wieder ihre Schreie, die so fern und trotzdem gleichzeitig auch so nah klangen.
Als ich sie anfaßte, da spürte ich nichts. Nur die glatte und verschwitzte Haut der Frau, die nicht mehr liegenbleiben konnte und sich mit einer so heftigen Bewegung aufsetzte, daß meine Hand von ihrem Körper schnellte und ich mir selbst fast ins Gesicht geschlagen hätte.
Fay blieb sitzen.
Sie schüttelte sich.
Ihr Mund war weit geöffnet. Den Kopf hatte sie in den Nacken gedrückt. Der gesamte Körper vibrierte, als wären Stromstöße dabei, ihn zu durchsägen.
Der Schattentanz an der Decke hörte ebensowenig auf wie der an Fays Körper. Die Schatten huschten überall entlang. Von den Schultern herüber die Arme, die Brüste, den Bauch, die Schenkel, und es waren kleine, monströse Geschöpfe, die in ihrer Wildheit kaum zu bremsen waren. Märchenwesen, Gesichter von Zwergen mit grausamem Ausdruck in den Gesichtern, bei denen vor allen Dingen die großen Mäuler besonders auffielen. Sie bissen nicht und quälten Fay Waldon trotzdem.
Ihr gesamter Körper war zu einem Bilderbuch des Schreckens geworden, von dem sie nicht mehr wegkam, obwohl sie immer wieder gegen die huschenden Geschöpfe schlug, um sie von sich zu entfernen.
Es hatte keinen Sinn. Die
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