1108 - Leichengasse 13
Kante ich mich wieder setzte.
Da sie auf der Seite lag, konnte ich sie anschauen, und sie blickte mir ins Gesicht. Sehen konnte sie mich nicht, da sie ihre Augen geschlossen hielt.
Sie schlief ruhig. Kein heftiges Atmen, kein Stöhnen im Schlaf, keine unruhigen Bewegungen. Ihr Gesicht zeigte einen sehr entspannten Ausdruck, über den ich mich nur wundern konnte, wenn ich ihn mit dem verglich, den ich zuletzt an ihr gesehen hatte. Da war er verzerrt gewesen, so daß man ihn schon als nahezu unmenschlich hatte einstufen können.
Nichts davon war zu sehen. Eine Frau, die ruhig schlief und ansonsten auch nicht daran dachte, Sex zu machen, wie ich es beim Eintreten erlebt hatte.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Sie zog dabei das rechte Bein an und öffnete die Augen.
Wir starrten uns an!
Es war eine wichtige Zeitspanne für uns beide. Wenn sie mich erkannte, dann würde sie sich auch erinnern, doch das geschah nicht. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich darüber klarzuwerden, daß sie keinen Traum erlebte. Und sie machte mir auch nicht den Eindruck, als würde sie sich an mich erinnern. Ihre Augen weiteten sich noch mehr. Der Ausdruck der panischen Angst trat hinein.
Sie wich von mir weg, und alles deutete auf eine Flucht hin, wobei sie die Decke hochraffte, um die Blößen zu bedecken. Sie wollte schreien.
Ich hielt sie davon ab, indem ich ihr die Hand auf den Mund preßte. Der Schrei drang nicht mehr hervor. Nur ein dumpfes Geräusch war zu hören. Sie wollte auch beißen, und ich sprach sie schnell an. »Bitte, ich will Ihnen nichts tun, Fay. Ich bin Polizist. Von Scotland Yard. Sie müssen mir vertrauen…«
Hoffentlich hatte sie begriffen, und so lockerte ich den Druck an ihrem Mund. Zuerst atmete sie.
Dann nahm ich die Hand völlig weg. Fay schrie nicht. Sie blieb nur in einer für sie unangenehm starren Haltung schräg auf dem Bett sitzen und wußte nicht, was sie tun oder auch nur sagen sollte.
»Ich bin wirklich Polizist und heiße John Sinclair.«
Kein Erkennen bei ihr. Ich war ihr völlig fremd. Sie deutete ein Kopfschütteln an.
»Können wir sprechen?«
Schulterzucken.
»Möchten Sie sich zunächst etwas überziehen?«
Wieder schüttelte sie den Kopf und raffte die Bettdecke nur höher, wobei ihr Blick noch die Kleidung streifte.
»Ich werde Ihnen nichts tun, Fay. Es ist alles gut. Ich habe nur ein paar Fragen.«
Meine beruhigenden Worte hatten ihr gutgetan, und zum erstenmal sprach sie mich an.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Sie müßten meinen auch kennen.«
»Nein, nein, ich habe Sie nie gesehen. Sie… Sie… sind mir völlig fremd, Mister.«
»Ich war schon bei Ihnen.«
»Wann?«
»Vor knapp einer Stunde.«
Fay dachte nach. Sie wirkte irritiert. Noch immer mißtrauisch, und sie hielt auch Abstand von mir.
Bei unserer ersten Begegnung hatte sie sich anders benommen. Vielleicht kam ihr erst jetzt zu Bewußtsein, daß sich ein Fremder in ihrem Schlafzimmer aufhielt. Es war nicht leicht, zu schlucken und zu begreifen, daß jemand im Zimmer einer jungen Frau gewesen war, während sie geschlafen hatte.
Sie hatte sich entschieden und stieß plötzlich hervor. »Unmöglich, das kann nicht sein. Nein, das glaube ich Ihnen nicht. Oder doch?« Sie zweifelte wieder. »Kann ja sein, daß Sie länger hier im Zimmer gewesen sind. Ist alles möglich. Ich war wehrlos. Aber wir haben nichts miteinander zu tun, echt nicht. Sie… Sie wollen mir hier was erzählen, Mr. Sinclair. Sie sind ein Einbrecher und in das Haus geschlichen, um etwas zu stehlen und die Menschen…«
»Bitte, Fay«, unterbrach ich sie. »Das alte Klischee möchte ich zwar nicht gern benutzen, aber sehe ich wie ein Einbrecher aus? Schauen Sie mich an. Sagen Sie dann die Wahrheit.«
Sie blickte mir tatsächlich ins Gesicht. Das Licht war hell genug, um alles erkennen zu können. »Na ja, eigentlich nicht«, gab sie zu, und zum erstenmal lächelte sie auch. »Man kann einem Menschen nur auf die Stirn schauen und nicht dahinter.«
»Da haben Sie recht, Fay, ich will Ihnen noch mehr sagen, wenn Sie gestatten. Wir beide waren nicht nur hier im Schlafzimmer, wir haben auch in der Küche gesessen, uns dort unterhalten und auch gemeinsam Gin getrunken. Das heißt, Sie, nicht ich. Sie können gern in die Küche gehen und nachschauen. Die Flasche und Gläser stehen noch auf dem Tisch. Tut mir leid, aber es war so.«
Fay Waldon sagte eine Weile nichts. Ihr Mund zuckte an den Winkeln. Dann nickte sie einige Male.
»Es stimmt,
Weitere Kostenlose Bücher