111 - Wenn das Grauen sich erhebt
zu vernichten.«
***
Lance Selby verließ sein Haus. Odas Geist registrierte sofort, daß der Mann auf dem Kutschbock vom Bösen besessen war. Stockard Ross’ Geist lenkte ihn. Er hatte keinen eigenen Willen mehr. »Selby?« fragte der junge Mann.
Der Parapsychologe nickte, »Ja.«
»Steig auf!« befahl ihm der Kutscher. Lance Selby überlegte blitzschnell, ob er den Mann mit Odas Hexenkraft attackieren sollte.
Es erschien ihm zu riskant. So etwas hätte er nur tun können, wenn Stockard Ross kein Faustpfand besessen hätte.
Er setzte sich nicht neben den Besessenen auf den Kutschbock, sondern kletterte auf die Ladefläche des alten, ächzenden Karrens.
Auf das magere Pferd weisend, bemerkte er: »Hoffentlich bricht die Schindmähre unterwegs nicht zusammen, sonst mußt du den Karren ziehen. Mit mir kannst du nicht rechnen. Wo hat Ross denn dieses bedauernswerte Tier aufgetrieben?«
»Keine Fragen!« knurrte der Kutscher und griff nach der Peitsche. Er schlug auf das Tier ein, und die großen Karrenräder fingen an, sich quietschend und ächzend zu drehen.
Lance setzte sich, mit Blick zurück. Sie entfernten sich von seinem Haus, fuhren an Tony Ballards Haus vorbei, verließen die Chichester Road.
Von Tony Ballard keine Spur, dachte Lance Selby zerknirscht. Er hat es nicht geschafft. Ich muß es allein durchstehen.
Der Karren polterte durch Paddington, und Lance Selby fragte sich, wo diese Fahrt enden würde.
Zeitweise war der Karren ein echtes Verkehrshindernis. Er fuhr nicht schnell und war schlecht zu überholen.
Das Gefährt paßte nicht in die heutige Zeit, aber es paßte zu Stockard Ross, den Lance Selby nun bald Wiedersehen würde.
***
Mirjana ging durch den schummrigen Gang auf die Tür zu, die in den verbotenen Trakt führte.
Sie horchte in sich hinein, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Das Mädchen war versucht, an Blair Sheenes Worten zu zweifeln, aber warum hätte ihr die Leiterin des Geister-Internats so eine verrückte, verwirrende Geschichte erzählen sollen?
Einen Grund könnte es dafür geben, durchzuckte es das Mädchen. Wenn Blair Sheene die Komplizin des Geistermanns wäre!
Doch sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Sie schämte sich seinetwegen sogar.
Ich kann Blair voll und ganz vertrauen. Sie würde mich niemals belügen, sagte sie sich. Und sie würde mich niemals einer Gefahr aussetzen, der ich nicht gewachsen bin. Sie ist tatsächlich meine Schwester. Ich habe es schon gestern gespürt, und ich fühle es heute wieder. Es besteht zwischen uns eine unirdische Verbindung. Wenn sie sagt, daß ich mit diesem Spuk fertig werde, dann schaffe ich das auch.
Mirjana erreichte die Tür und blieb stehen. Sie wollte nicht mehr an all die unbegreiflichen Dinge denken, die sie erfahren hatte. Sie mußte sich auf ihre Aufgabe konzentrieren, Ihre Mutter war eine weiße Hexe gewesen, und sie hatte es nicht gewußt. Wie hatte Blair sie genannt? Hexennovizin. Ja, jetzt begann sie zu spüren, daß sie das war.
Du denkst schon wieder an etwas anderes! Denk an Bartholomew Hall! ermahnte sie sich, und dann griff sie nach der Türklinke.
Kälte floß in ihre Hand und kroch durch ihren Arm. Ein unangenehmer Modergeruch wehte sie an.
Mirjana hielt unwillkürlich den Atem an, während sie die Tür öffnete. Sie konnte sich noch ganz genau an das unheimliche Erlebnis der vergangenen Nacht erinnern.
Obwohl sich der Geistermann noch nicht blicken ließ, sah sie ihn deutlich vor ihrem geistigen Auge. Diese furchterregende, ausgemergelte Gestalt mit den leidenden Zügen. Er schien sich das Leben nach dem Tod anders vorgestellt zu haben.
Ich betrete sein Reich, dachte Mirjana, während sie die Tür hinter sich schloß. Langsam stieg das Mädchen die Stufen hinunter. Ihre Nerven waren straff gespannt. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was der Geistermann alles tun konnte.
Wenn sie tatsächlich so starke Hexenkräfte in sich trug… wieso spürte sie nichts davon? Würden die Kräfte erst reagieren, wenn sich Bartohlomew Hall zeigte?
Mirjanas Herz klopfte so laut, daß der Geistermann es hören mußte. Sie erreichte die Stelle, wo die schweren schwarzen Ketten gelegen hatten.
Diesmal waren sie nicht zu sehen, und auch der graue Geistermann zeigte sich nicht.
Aber er war da. Mirjana spürte seine Nähe. Sie bemerkte, wie sie ihn mit Geistfühlern zu orten versuchte.
Daß so etwas möglich war, hätte sie gestern noch nicht geglaubt. Ihr Leben hatte angefangen, sich völlig
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