1114 - Der Pestmönch
denn dieses tanzende Licht lockte sie an. Die kleine Flamme bewegte sich, obwohl sie keinen Wind spürten. Es gab auch keine fremden Geräusche. So hörten sie nur die eigenen Schritte, die über den Boden kratzten. Der poröse Untergrund gab leise Echos zurück, die sich in der kompakten Stille schnell verloren.
Kamen sie näher? Blieb die Entfernung gleich? Es war für sie nicht genau festzustellen. Um sie herum war nur Schwärze und auch Leere. Suko kannte fremde Dimensionen, in denen er Stimmen gehört hatte. Reiche, die von schrecklichen Wesen besetzt waren und die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft sprengten.
Hier war es anders.
Keine Stimme, keine bösen Gedanken.
Sie und das schimmernde Licht waren allein.
Es war auch nicht die Hölle, wie Britta einmal behauptet hatte. Suko rechnete immer stärker damit, in die Vergangenheit des Castles hineingereist zu sein.
Britta blieb dicht bei ihm. Das reichte ihr noch nicht. Sie hatte auch seine rechte Hand umklammert, und er spürte den Schweiß auf ihren Fingern. Auch ihr leichtes Zittern war zu merken. Ihr oft heftiges Atmen blieb ihm ebenfalls nicht verborgen.
Welche Strecke sie zurückgelegt hatten, wußte keiner von ihnen. Sie gingen nur einfach weiter.
Licht bedeutet immer so etwas wie Hoffnung, auch wenn es nur ein Schimmern war.
Aber die Welt erhellte sich.
Es war die Flamme, die ihnen größer vorkam. Um ihre eigentliche Länge verdoppelt, und sie schaffte es jetzt, soviel Streulicht auszusenden, daß ihr Schein auch an der Gestalt in die Höhe glitt, die die Kerze hielt.
Es war tatsächlich der Mönch!
Plötzlich stand er vor ihnen. Er versperrte ihnen sogar den weiteren Weg, und sie wußten nicht, ob er ihnen entgegen gekommen war oder nicht.
Das Licht strahlte von unten her in sein Gesicht. Da sich die Flamme leicht bewegte, wurde auch der Kopf von einem Spiel aus Helligkeit und Schatten erfaßt. Beides tanzte über den Ausschnitt in der Kapuze hinweg. Unter der Stirn schien sich das Leuchten in den Augen festgesetzt zu haben, denn sie hatten ihren Glanz verändert und waren vom Blick her weicher geworden.
Er sprach sie nicht an. Es stand überhaupt nicht fest, ob er sprechen konnte. Er schaute nur, und Suko konzentrierte sich auf seinen Blick. Eine Feindseligkeit verspürte er nicht. Der Mönch wirkte auf ihn wie eine neutrale Person, die auf ihn gewartet hatte, aber noch nicht fähig war, sich ihm zu erklären.
»Du kannst mich verstehen?«
»Ja…« Er hatte mit einer düster klingenden Stimme gesprochen und schien Mühe zu haben, das Wort zu formulieren.
»Wer bist du?«
Diesmal dauerte es eine Weile, bis die Gestalt eine Antwort geben konnte. Abermals drangen die Worte so raunend und düster klingend aus dem Mund. »Ich bin der Hüter der Toten«, erklärte er.
»Ich bin der Wächter. Ich bin der Verfluchte. Ich bin derjenige, der immer leben wird und leben muß…«
»Tote?« fragte Suko. »Welche Tote hütest du?«
»Die Toten der Pest…«
***
Das war eine Antwort, mit der beide nicht gerechnet hatten. Da Britta noch immer Sukos Hand hielt, spürte er sehr das Zucken ihrer Finger. Ein Zeichen darauf, wie überrascht sie war.
Suko dachte über die letzte Antwort noch einmal nach. Alles was recht war, aber damit hatte der Mönch auch ihn überrascht. In seinem Kopf spulte sich ab, was er über die Pest wußte.
Sie hatte im Mittelalter gewütet. Millionen von Menschen waren ihr zum Opfer gefallen. Ganze Ortschaften waren zu gewaltigen Friedhöfen geworden, und über dem gesamten Kontinent hatte der Tod stets wie ein bleiches Gespenst gehaust.
Die Pest war schließlich besiegt worden, doch die Erinnerung daran würde nie verlöschen.
Suko schüttelte den Kopf. »Du hütest die Pesttoten?«
»Ich bin der Pestmönch.«
»Warum tust du das?«
»Weil ich sie damals überlebt habe.«
»Wie… wieso…?«
Auf dem Gesicht zeichnete sich eine schreckliche Qual ab. »Ich muß mit meinen Gedanken weit zurück in die Vergangenheit gehen«, sagte er flüsternd.
»Damals sind die Menschen dahingerafft worden. Auch das Kloster, in dem ich lebte, wurde nicht verschont. Auch ich wäre gestorben, doch ich ließ mich auf einen Handel ein. Der Leibhaftige schloß mit mir einen Pakt. Er versprach mir, mich vor der Pest und damit vor einem sicheren Tod zu verschonen, wenn ich mich auf seine Seite stellte. Das habe ich getan. Ich sah meine Brüder sterben. Ich sah Kinder und Frauen zugrunde gehen, aber ich überlebte. Ich war sogar
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